Kindergarten

Austausch und Dialog sorgen für mehr Verständnis. © shutterstock

Die Journalistin Canan Topçu setzt sich vehement ein für eine Kultur des Dialogs, des offenen Austauschs, auch über ideologische Grenzen hinweg. Sie plädiert unermüdlich dafür, das Gespräch nicht abreißen zu lassen oder durch unsachliche Pauschalisierungen zu sabotieren. Diesen Herbst war sie unterwegs im Norden und im Osten des Landes – mit ihrem Buch „Nicht mein Antirassismus“ im Gepäck und auf der Suche nach dem Dialog. Einige Gedanken zu ihren Begegnungen und Erlebnissen im Laufe dieser Lesereise hat sie für vorangedacht aufgeschrieben:

Mit Jugendlichen im Gespräch

Im Oktober und November bin ich auf Lesereise. In der ersten Oktoberwoche war ich in Süd- und Norddeutschland; in Leer konnte ich einige Leser meiner Kolumne kennenlernen – wie etwa die Lehrerin, die mich in ihre Schule  zum Gespräch mit Zehntklässlern eingeladen hat. Ich schätze sie sehr für ihr Engagement insbesondere für Schüler aus problematischen Familien und habe daher ohne Zögern zugesagt. Es waren sehr intensive 90 Minuten, die ich mit den Jugendlichen verbrachte. Entgegen der Ankündigung von Lehrkräften, ich solle mich darauf einstellen, dass die Schüler schweigsam sind, keiner eine Frage stellen und sich kein Gespräch entwickeln werde, waren viele sehr interessiert an Antworten auf Fragen, wie etwa die, welcher Religion ich angehöre. Als ich sagte, dass ich mich als Kulturmuslima verstehe, also nicht alle Regeln, Gebote und Verbote einhalte, wollten sie wissen, wie ich zum Kopftuch stehe. Dazu habe ich eine klare Position. Diese erläuterte ich den etwa 40 Anwesenden, von denen einige ihr Haar verhüllt hatten.

Es wurde laut in der Aula

Einige wollten wissen, warum ich mich nicht als Türkin, sondern als türkischstämmig vorgestellt hatte. Und einige trauten sich auch zu fragen, ob ich verheiratet bin. Ich antwortete mit „Ja“ und fügte hinzu „und zwar mit einem deutschen Mann“. Es wurde laut in der Aula, die einen kommentierten reflexartig, andere absichtlich diese Information. Und wieder entstand ein Gespräch darüber, ob und warum jeder seinen Lebenspartner selbst auswählen sollte oder auch nicht, zum Beispiel „um die Eltern nicht zu enttäuschen“. Das sagten mir zwei Schülerinnen erst nach dem offiziellen Part im persönlichen Gespräch. Wäre es nach den Schülern gegangen, dann hätten sie sich gerne noch länger mit mir ausgetauscht. Ich versprach, ihnen zu antworten, wenn sie mir eine E-Mail schreiben.

„Der Osten ist vielen Menschen wie mir nicht geheuer“

Nun bin ich in Ostdeutschland. Anfang der Woche habe ich in Görlitz aus meinem Buch vorgelesen und mit dem Publikum diskutiert. Annaberg-Buchholz, Torgau und Bautzen sind weitere Stationen. Als ich in Görlitz, der ersten Station der Tour, aus dem Zug ausstieg, kam Unbehagen in mir auf. Der Osten ist vielen Menschen wie mir nicht geheuer – also solchen, die von einem Teil der alteingesessenen Deutschen – insbesondere im Osten – als Fremde, Ausländer, Migranten und nicht nur sprachlich mit Schimpfwörtern ausgeschlossen werden. Unter Meinesgleichen gibt es etliche, die das Gebiet der einstigen DDR meiden – aus Angst vor Anfeindungen. Wie sehr ich von den Ängsten beeinflusst bin, ist mir einmal mehr klar geworden, als ich Görlitz zu Fuß erkundete. Eben weil auch ich nicht frei von Vorurteilen bin, hatte ich ja die Einladung für Lesereisen in den Osten angenommen. Ich möchte ins Gespräch kommen mit denen, die despektierlich als „Ossis“ bezeichnet werden. Bei dem ersten Termin habe ich aber in dieser Hinsicht kein Glück gehabt: das Publikum bestand aus jungen Leuten, die aus dem Westen stammen und wegen des Studiums oder der Arbeit in Görlitz leben. Es waren erwartungsgemäß nicht allzu viele da, aber mit denen, die gekommen waren, gab es ein gutes Gespräch – insbesondere mit einem Menschen, den ich hier Daniel nennen möchte, mit dem ich nach dem offiziellen Teil die Unterhaltung in einem Lokal bei einem Glas italienischen Rotwein fortsetzte.

Unterschiedlich, aber trotzdem gleichwertig

Es war ein intensives Gespräch! Ich konnte Fragen stellen, die man eigentlich nicht mehr stellen soll – unter anderem nach der Herkunft. Erfahren habe ich so folgendes: Daniel ist Nachkomme einer schwarzen US-Amerikanerin und eines Franzosen sowie einer Schwäbin mit polnischen Wurzeln. Aufgewachsen ist er bei Stuttgart; nach 25 Jahren in Berlin ist er im Herbst 2021 nach Görlitz umgezogen, auch weil er genug von Großstadtrummel hatte.

Das Bemühen darum, Hautfarbe zu ignorieren, weil sie angeblich irrelevant sei, gefällt ihm nicht. Gleichwertigkeit trotz Unterschieden, das ist sein Credo.  Und irgendwann kamen wir zu der Frage, wie er zu dem „kontaminierten Wort“ steht. Ich sprach es nicht aus und sagte aber auch nicht „N-Wort“, weil diese Umschreibung meiner Ansicht nach keine angemessene Alternative ist, denn der „Elefant ist auch dann im Raum“. Ob es ausgesprochen oder ausgeschrieben werden darf, wollte ich von ihm wissen. Daniel hat er eine klare Position: „Wenn ich das Wort ‚Neger‘ höre, dann zucke ich erstmal zusammen; weil auch ich damit angesprochen und beschimpft wurde und manchmal auch heute mir das anhören muss. Die Konsequenz daraus ist aber nicht, dass dieses Wort komplett aus der Sprache zu verbannen ist. Wie wollen wir historische Ereignisse und persönliche Erlebnisse thematisieren, die Ungeheuerlichkeit als solche zum Ausdruck bringen, wenn wir nicht benennen, wie wir bezeichnet wurden und leider auch von etlichen noch immer beschimpft werden. Geschichte lässt sich nicht umschreiben und durch Auslassen von Worten wiedergutmachen; durch Weglassen und Umschreiben wird verschleiert, was geschehen ist und geschieht. Ich bin nicht als N-Wort, sondern als ‚Neger‘ beschimpft worden.“

Miteinander sprechen hilft

Ich habe gefragt und ihm zugehört. Das Ergebnis: Miteinander sprechen, sich Fragen stellen und zuhören, ohne zu kommentieren, hilft mir zu erkennen, es gibt auf manche Fragen mehr als nur eine richtige Antwort. Einmal mehr ist mir nach dem Austausch mit ihm klar geworden, wie wichtig es ist, die eigenen Annahmen immer wieder zu hinterfragen und sich nicht von ideologischen Grundsätzen leiten zu lassen.

Canan Topçu

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