

Pashtana Durrani ist eine der lautesten Stimmen im Kampf um Bildung für afghanische Mädchen. © Lisa Abitbol
„Meine Mutter hat uns gelehrt, mein Vater hat uns geführt – ich mache heute beides.“ Pashtana Durrani ist die Gründerin von LEARN, einer Hilfsorganisation, die sich für die Bildung von Mädchen in Afghanistan einsetzt.
„Den Mund halten? Nicht mit mir!“
Die Aktivistin ist selbst als Flüchtling in dritter Generation in einem Flüchtlingscamp in Pakistan aufgewachsen. Ihr Vater gründete dort mit eigenem Geld eine Schule. Seine Rolle Stammesführer nahm er sehr ernst, auch wenn ihm sein Einsatz immer wieder Verhöre und Gefängnisaufenthalte einbrachte. Das Verantwortungsgefühl gab er an seine Tochter weiter, erzählt Pashtana Durrani: „Mein Vater betrachtete Führerschaft als Dienst an den eigenen Leuten: Sie kamen für ihn an erster Stelle, und so lange ich denken kann, bereitete er mich darauf vor, es ihm gleichzutun.“ Als er sich 2001 als einer der Ersten dem Kampf gegen die Taliban anschloss, war Pashtana vier Jahre alt. Mit sieben hielt sie nicht nur zum ersten Mal eine Schusswaffe in den Händen, sondern begann auch, anderen Mädchen Englischunterricht zu geben.
„Ich finde, jeder sollte Eltern wie ich haben: Ein Elternteil, das dir blind vertraut, und ein Elternteil, das jedes deiner Worte anzweifelt. Dank Ersterem besitzt du Tapferkeit und Ideale, dank Letzterem feilst du so lange an deinen Argumenten, bis sie sitzen.“ Pashtana Durrani
Immer wieder bestärkte Durranis Vater sie darin, selbstbewusst ihren Weg zu gehen, auch wenn die gesellschaftlichen Erwartungen ganz andere waren, wie sie in ihrem Buch „Lasst uns lernen“ beschreibt: „Je älter man wird, desto strenger werden die Regeln, und mit zehn wird von einem Mädchen erwartet, dass es sich bedeckt, den Mund hält und sich endgültig ins Haus zurückzieht. Nicht mit mir. Ich wollte allen beweisen, dass aus mir sehr wohl etwas wird“, beschreibt Durrani diesen Gegensatz.
Ein Brief aus Oxford mit der Zusage für ein Stipendium hat den Beweis acht Jahr später sicherlich geliefert. Doch die 18jährige schlug das Angebot aus und gründete eine NGO, um afghanischen Mädchen Schulbildung zu ermöglichen. Doch wie organisiert man in einem Land wie Afghanistan Unterricht? Durrani startete mit ein paar Tablets. Inzwischen hat ihre Organisation LEARN Tausende von afghanischen Kindern mit Wissen versorgt. Als Pashtana Durrani vor den Taliban in die USA flieht, lässt sie also viel zurück: LEARN hat 18 digitale Schulen betrieben, bis die Taliban sich wieder des Landes bemächtigt und den afghanischen Mädchen Bildung verboten haben. In ihrem Buch „Lasst uns lernen!“ gibt uns die junge Aktivistin einen offenen Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlswelt heute, Monate nach ihrer Flucht:
Man kann der Hälfte der Menschheit nicht die Bildung verweigern
„Es ist ein Jahr her, seit ich mein Land verloren habe. Ab und zu wurden die unvorstellbaren Verluste von kleinen persönlichen Siegen aufgewogen. Im Juni 2022 machte ich endlich meinen Abschluss an der Uni, aus der Ferne und ohne Glanz und Gloria. Doch als der Tag meines Abschlusses kam, spielte es kaum eine Rolle, dass das Ganze so dürftig und willkürlich war. Es ging überhaupt nicht um den akademischen Titel. Es ging darum, dass ich die Ziellinie erreicht hatte, trotz des Krieges, obwohl ich mein Land verloren hatte, obwohl ein Gesetz verabschiedet worden war, das mir verbot, überhaupt eine Universität zu besuchen. Ich machte meinen Abschluss durch die Gnade Gottes, doch es war der Glaube meines Vaters an mich, der mir die Außenseiterchance gegeben hatte, an diesem Tag dort zu sein. Es erinnerte mich an sein stures Beharren, dass ich einen Weg finden würde, dass ich es hinkriegen würde, selbst wenn alles um mich herum auf das Gegenteil deutete. Er hatte mir beigebracht, dass es sich bei manchen Dingen lohnt, zu kämpfen, egal, wie gering die Chancen stehen oder wie dünn gesät die Siege unterwegs waren. Seinetwegen weigerte ich mich zu akzeptieren, dass Bildung etwas ist, was man der Hälfte der Menschheit verweigern kann. Seinetwegen kämpfe ich weiter für meine Mädchen.
Die ersten High School-Abschlüsse: ein Tag zum Feiern
Was mich weitermachen ließ, war nicht mein eigenes Diplom, sondern die dreiundachtzig Diplome, die ich austeilen würde. In demselben Monat, in dem ich meinen Abschluss machte, erreichte die erste Klasse afghanischer Mädchen in meinem Programm den Highschool-Abschluss. Sie machten ihren Abschluss digital, in Gebieten ohne Internet, in einem Land, das ihnen verbot, eine höhere Schule zu besuchen. Das war ein Sieg, egal wie klein. Dies war nicht der Zeitpunkt, über fehlende Finanzierung und über die Grenzen des Programms nachzudenken. Dies war ein Tag zum Feiern.
Das »Learn«-Budget reichte nicht, um eine richtige Party zu schmeißen, aber ich sparte und schickte von meinem eigenen Geld etwas für Saft und Süßigkeiten. Ich wollte, dass sie sich daran erinnerten, dass das, was sie erreicht hatten, ihnen einst unmöglich erschienen war. Wenn man stur genug ist und wenn man es entschlossen genug versucht, kann man das, was möglich ist, manchmal korrigieren. Und es braucht ein wenig Glauben und Bereitschaft, um zu kämpfen.
„Meine Bildung ist meine Rüstung“
Bemitleidet meine Mädchen nicht wegen der geringen Chancen, die sie haben. Mitleid ist ein jämmerlicher Ersatz für Hoffnung. Blickt an unseren Niederlagen vorbei und beurteilt uns aufgrund unseres Glaubens und unserer Bereitschaft zu kämpfen. Das können die Taliban uns nicht nehmen. Ich bin zum Kampf bereit. Und meine Bildung ist meine Rüstung.“
Durranis Organisation ist weiter tätig, wenngleich das Engagement unter den heutigen Bedingungen deutlich erschwert ist.


Die Situation der Mädchen in Afghanistan
Für das Jahr 2015 gibt Unicef an, dass nur gut 40 Prozent der afghanischen Mädchen und weniger als 70 Prozent der Jungen die Grundschule abgeschlossen haben. Das afghanische Schulsystem sieht eigentlich für alle eine Schulzeit von mindestens 9 Jahren vor: für 6 Jahre gehen die Kinder in die Grundschule, anschließend für weitere 3 Jahre auf eine einheitliche weiterführende Schule.
Seit die Taliban wieder die Kontrolle übernommen haben, verwehren sie Mädchen und jungen Frauen den Zugang zu weiterführenden Schulen – im Widerspruch zu öffentlichen Erklärungen, in denen sie das Gegenteil beteuern.
„Ein schwerer Rückschlag für eine ganze Generation heranwachsender Mädchen“, urteilt Unicef. „Denn dadurch bleibt ihnen nicht nur der Zugang zu höherer Bildung und damit zu wichtigen Zukunftschancen verwehrt, sondern dadurch steigt auch das Risiko, dass sie Opfer von Ausbeutung oder Missbrauch werden oder früh verheiratet. Rund 1,1 Millionen Mädchen in der Sekundarstufe sind von den Bildungseinschränkungen betroffen.“
Die Bildung heranwachsender Mädchen muss in die Krisenplanung und -vorbereitung einbezogen werden. Die Bildungssysteme müssen flexibel sein und auf die Bedürfnisse und Umstände der Mädchen eingehen und sollten auch die Vermittlung von Lebenskompetenzen und berufliche Bildung umfassen.
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