Das Missionshaus in Kommaggas 1854, im Vordergrund am Tisch sind Zara und Johann Schmelen dargestellt. © Archiv- und Museumsstiftung der VEM

Puppen aus Namibia. © shutterstock.com

Zum Black History Month im Februar spricht vorangedacht mit Historikerin Ursula Trüper, die einen besonderen Blick auf die Geschichte der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia hat. Ein Interview über rassistische Denkmuster, Reparationszahlungen und den unerschrockenen Kampf um Anerkennung und Respekt.

Frau Trüper, wie schätzen Sie die Situation in Deutschland bezüglich Rassismus ein?

Ich denke, die Lage in Deutschland ist ähnlich wie die in den USA. Glücklicherweise wird offener Rassismus von der öffentlichen Meinung mehrheitlich abgelehnt – aber rassistische Denkmuster sind allgegenwärtig. Denken Sie nur an den sofort aufkommenden Verdacht anlässlich der Silvesterkrawalle in Berlin-Neukölln, es müsse sich bei den beteiligten Jugendlichen um „Menschen mit Migrationshintergrund“ handeln. Oder denken Sie an den Fall Oury Jalloh. Der verbrannte Leichnam des aus Guinea stammenden Schwarzen Asylbewerbers wurde 2005 in einer Dessauer Polizeizelle aufgefunden. Wie genau er zu Tode kam, ist bis heute nicht aufgeklärt. Würden die deutschen Behörden ebenfalls derart lahm und schlampig ermitteln, wenn es sich um einen Weißen gehandelt hätte?   

Was können Gedenktage oder -monate überhaupt bewegen und bewirken?

Oft erinnern Gedenktage daran, dass ein bestimmtes Problem noch nicht gelöst ist. Beispielsweise hat unsere Gesellschaft den Anspruch, dass niemand aufgrund seines oder ihres Geschlechts, Hautfarbe, Abstammung, Religion, Sprache, Herkunft, politischen Anschauung benachteiligt werden darf. So steht es schwarz auf weiß im Artikel 3 des Grundgesetzes.

So weit sind wir aber noch lange nicht. Und so erinnert beispielsweise der 8. März, der Internationale Frauentag, daran, dass Männer und Frauen in unserer Gesellschaft noch lange nicht gleichberechtigt sind. Das gleiche gilt für Schwarze Menschen. Daran erinnert der Black History Month.

Was muss aus Ihrer Sicht vorrangig passieren, damit die deutsche Kolonialgeschichte von staatlicher Seite angemessen aufgearbeitet würde? Und warum ist das wichtig?

Das erste wäre m. E., dass der deutsche Kolonialismus im Schulunterricht angemessen behandelt würde. Es wird noch immer so getan, als sei die deutsche Kolonialzeit eine kurze Episode gewesen – ohne nachhaltige Auswirkung auf die deutsche Gesellschaft. Das ist aber keineswegs der Fall. Als die Nazis den Rassismus zur herrschenden Ideologie erklärten, mussten sie wenig neu erfinden. Sie konnten direkt daran anknüpfen, was im deutschen Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Republik über „Rassen“ gesagt und geschrieben wurde. Und Reste dieser Ideologie prägen bis heute unser Denken – auch wenn es uns oftmals nicht bewusst ist. Ich – als Mensch, der immer Weiß „gelesen“ wurde – schließe mich da durchaus ein.    

Sie selbst haben einen besonderen Blick auf Namibia und insbesondere die Geschichte der deutschen Missionare im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“, denn Ihre Vorfahren haben ihrerzeit dort missioniert. Inwieweit prägt das Ihren eigenen Blick auf die Geschichte und Ihre Arbeit als Historikerin?

Meine Missionars-Vorfahren haben in mir eine tiefsitzende Skepsis gegen jeden Versuch erzeugt, anderen die eigenen „Werte“ überstülpen zu wollen. „Zuerst kamen die Missionare, dann die Händler und zuletzt die Soldaten“ – diesen Ausspruch kann man gerade in Namibia sehr schön studieren.

Einer Ihrer Vorfahren heiratete eine Einheimische – ein sehr lang gehütetes Familiengeheimnis. Was bedeutete diese Hochzeit zwischen einer Schwarzen und einem Weißen damals gesellschaftlich? Wie lässt sich die Situation in Hinblick auf rassistische Strukturen beschreiben?

Als meine Ururur-Großmutter und mein Ururur-Großvater 1814 heirateten, gab es noch nicht den Rassismus als „wissenschaftliches“ System, wie man es dann Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte. In Südafrika, wo die beiden geheiratet haben, gab es auch noch nicht das Apartheid-System, das die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen verboten hätte. Aber natürlich gab es bereits Rassismus. Es ist sicher kein Zufall, dass sich meine Ururur-Großeltern im abgelegen Komaggas im äußersten Norden Südafrikas niederließen – sehr weit entfernt von allen Weißen Ansiedlungen. Natürlich gab es zu ihrer Zeit zahlreiche sexuelle Beziehungen über die colour-line hinweg. Aber dass ein Weißer Mann eine Schwarze Frau heiratete und sie damit als gleichberechtigt anerkannte, das war damals ein veritabler Skandal.   

Wie sehr, in welcher Form und in welchen Aspekten des Lebens prägen Ihrer Erfahrung nach die kollektiven und auch individuellen Erfahrungen von kolonialer Herrschaft heute noch die Nachfahren?

Ich glaube, unsere Familie ist da nicht anders von kolonialen Erfahrungen geprägt, als andere Familien. D.h. die Weißen Nachkommen von Zara und Johann Hinrich Schmelen leben auf einem „Weissen“ Wohlstandsniveau, das unserem europäischen durchaus vergleichbar ist. Das Leben unserer Schwarzen Verwandten hingegen ist immer noch häufig ein Leben in Armut. Es gibt immer noch „Weiße“ Wohngebiete und „Schwarze“. Sie unterscheiden sich stark, was Sicherheit, Komfort der Häuser, Gesundheitsversorgung, Schulniveau usw. angeht. Heute findet die Segregation nicht mehr aufgrund von Rassismus statt, sondern über das Einkommen.

Es wird noch immer so getan, als sei die deutsche Kolonialzeit eine kurze Episode gewesen – ohne nachhaltige Auswirkung auf die deutsche Gesellschaft. Das ist aber keineswegs der Fall. Als die Nazis den Rassismus zur herrschenden Ideologie erklärten, mussten sie wenig neu erfinden. 

Ursula Trüper

Wie ist der Blick der heutigen Bürger:innen Namibias auf die Zeit der Kolonialisierung und vor allem auf den Krieg und Völkermord durch die Deutschen? Wie haben Sie das erlebt während Ihrer Forschungsaufenthalte in Namibia?

In der älteren Generation gibt es unter den Weißen Namibias immer noch viele, die den Völkermord schlicht leugnen und die koloniale Vergangenheit glorifizieren. Unter den Schwarzen entwickelt sich seit der Unabhängigkeit ein neuer Stolz auf die eigene afrikanische Kultur und Geschichte. Dazu gehören auch die antikolonialen Kriege ihrer Vorfahren, beispielsweise gegen die deutsche Kolonialmacht.

Was ist die Erwartung Namibias an die Aufarbeitung dieser Geschichte? Welche Anstrengungen hat Deutschland bislang diesbezüglich unternommen und wie beurteilen Sie das? Kann es überhaupt Wiedergutmachung geben?

Kann es Wiedergutmachung geben? Diese Frage wird oft gestellt und was sich dahinter verbirgt, ist oft folgende Überlegung: Wenn die Schuld so übergroß ist, dass sie nicht wiedergutgemacht werden kann, dann tut man am besten gar nichts. Streuen wir uns also ein bisschen Asche aufs Haupt, das kommt uns billiger, als wenn wir uns ernsthaft um Reparationszahlungen bemühen.

Natürlich kann die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des deutschen Kaiserreiches den Völkermord an den Nama und Herero nicht „wieder gut machen“. Aber es kann ernsthaft dazu beitragen, dass das damals entstandene Unrecht gelindert wird: Viele der riesigen Weißen Farmen, die es heute noch in Namibia gibt, sind auf der Basis des Kolonialkrieges und Völkermordes in Namibia entstanden. Das Land gehörte ursprünglich den Nama und Herero und wurde ihnen gewaltsam geraubt. Manchmal wurde Land auch weit unter dem damaligen Wert „gekauft“. Da die Deutschen so ein Faible für eine geordnete Bürokratie haben, gibt es bis heute im Nationalarchiv Windhoek die Dokumente, in denen genau festgehalten ist, wie welches Stück Land seinen Besitzer gewechselt hat und unter welchen Umständen. Es wäre also nicht schwer, festzustellen, wer Anspruch auf Entschädigung hat. Im Falle der Nama und Herero waren das oftmals keine Einzelpersonen, sondern eine ganze Gemeinschaft. Man könnte also einfach fordern, dass das Land an seine rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden muss. Oder man könnte die damals üblichen Grundstückpreise zugrunde legen, und auf dieser Basis errechnen, wieviel Geld der jeweiligen Gemeinschaft zusteht. Sie können sich vorstellen, wie teuer das für Deutschland kommen würde.

Soweit gehen die Nachkommen der damaligen Opfer freundlicherweise nicht. Was sie fordern ist: eine ernstgemeinte Bitte um Vergebung, damit die emotionalen Wunden, die noch heute schmerzen, endlich heilen können. Und eine substanzielle Entschädigung. Viele Nachkommen der einst stolzen und wohlhabenden Hirtenvölker Nama und Herero gehören heute zur ärmsten Bevölkerungsgruppe Namibias.  

Mit Ihrem Buch „Zara oder das Streben nach Freiheit“ arbeiten Sie auf sehr anschauliche und einfühlsame Weise die Geschichte Ihrer Schwarzen Vorfahrin auf. Damit tragen Sie einen wertvollen Mosaikstein innerhalb der postkolonialen Studien bei. Welche Bedeutung hat das Buch für Sie persönlich?

Ich habe erst spät verstanden, dass ich damit quasi einen Auftrag meines Vaters erfüllt habe. In meiner Familie ist Zara immer verheimlicht worden. Dann hat mir mein Vater eine Familienbibel vererbt, auf deren letzte Seiten er alles aufgeschrieben hat, was er über die Schwarze Vorfahrin wusste. Das war sein unausgesprochener Auftrag. Viele Kinder erhalten ja solche unausgesprochenen Aufträge von ihren Eltern. Und es ist keineswegs leicht, sie zu ignorieren. Und so habe auch ich mich eines Tages dran gemacht, diesen Auftrag zu erfüllen.  

Stellen Sie sich vor, Zara könnte das Buch über sie lesen – was glauben Sie, wäre ihre Reaktion? Wie würde Zara mit dem heutigen Abstand auf ihr Leben blicken?

Die „Zaras“ von heute können sich als Teil einer großen weltweiten Bewegung fühlen, die für gleiche Rechte kämpft. Sie werden zwar immer noch diskriminiert, aber sie stehen nicht alleine. Zaras Problem war, dass sie sie sehr alleine war.   

Wer sind die „Zaras“ von heute? Wer sind für Sie persönlich beeindruckende Schwarze Persönlichkeiten unserer Zeit, denen Sie mehr Anerkennung und Würdigung wünschen?

Überall gibt es Menschen, Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, die ihre untergeordnete Situation nicht hinnehmen, die sich  Diskriminierung, Hunger und Entmündigung nicht gefallen lassen. Die ihr Leben lang zäh und unerschrocken für eine bessere und gerechtere Welt kämpfen. Ihnen allen gilt meine Bewunderung.

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