Kindergarten

Hellmuth Karasek war Journalist, Literaturkritiker und ein herausragender Witzeerzähler.

Es soll Carter gewesen sein, der seinem sowjetischen Gegenspieler im Kalten Krieg, Leonid Breschnew, die folgende Frage gestellt haben soll:

Carter: „Sammeln Sie auch Witze, die über Sie im Umlauf sind?“

Breschnew: „Nein, aber ich sammle Leute, die Witze über mich erzählen. In Lagern.“

Der Mächtige fürchtet, wenn er durch den Witz verächtlich gemacht wird, die Gefahr der eigenen Zerstörung. Witze bedrohen ihn – wie es Andersens Märchen von »des Kaisers neuen Kleidern« satirisch festgehalten hat. Orwells „Großer Bruder“ in 1984 muss befürchten, dass ihn jeder, der ihn lächerlich zu machen sucht, in seinem Machtanspruch bedroht.

Der Witz als Quelle oppositioneller Kraft

Wir dürfen uns das Verhältnis zwischen Witz und Macht durchaus als asymmetrische Kriegsführung zwischen den Mächtigen und den Unterdrückten vorstellen. Für diejenige, die ihre Witze in totalitären Systemen auf Kosten der Herrscher und der Herrschaft reißen, ist die Gefahr, die für sie darin besteht, dass sie die Witze wagen, Bestandteil ihrer Würde und ihrer oppositionellen Kraft. Witze nehmen die Macht – jedenfalls für den Moment der Pointe – nicht ernst, auch nicht Julius Cäsars Sprichwort: „Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten.“

Hört die Furcht für den Augenblick auf, in dem man über das Terroristische, Furchterregende der Herrschaft zu lachen und zu spotten wagt, dann fühlen sich die Mächtigen in ihrer Unantastbarkeit bedroht. Für den Geduckten, Unterdrückten bedeutet es, dass er sich die Freiheit nimmt, die auszulachen, die ihn bedrücken, unterdrücken. Er gewinnt seine Würde wieder, seine Freiheit. Er bezahlt diese Freiheit mit dem Risiko, ausgelöscht zu werden.

Göring-Witze als Gradmesser der Popularität

Andererseits erlauben Machthaber, glauben sie sich fest im Sattel, den Spaßmachern, sich auf ihre Kosten lustig zu machen. Stalin, im Hochgefühl seiner Macht, soll Witze über sich genossen und goutiert haben, sie schmeichelten ihm. Sie zeigten ihm, wie sehr er gefürchtet war. Anders ausgedrückt: Sie festigten seinen Sockel. Auch Göring, der Reichsmarschall Hitlers, soll Witze über sich geschätzt haben als Gradmesser seiner Popularität.

In solchen Fällen wird das Dampfablassen des Überdrucks im Kessel nach außen als Regulativ empfunden. Tauwetterperioden im Kalten Krieg versendeten solche Zeichen: Es darf gelacht werden! Wir sind souverän. Wir fürchten nichts. Nicht einmal den Witz. Im Hintergrund blieb allerdings die Überzeugung: „Alles hat seine Grenzen!“ – „Alles muss seine Grenzen haben.“ – „Bis hierher und nicht weiter!“ Und so bleibt es bei der Asymmetrie im Kampf zwischen Witz und Macht. Beide Seiten loten die Grenzen aus.

Natürlich ereignet sich Politik überall, auch in Staaten, die zumindest die selbst gesetzten Normen und Regeln anerkennen und diese mit den allgemein anerkannten Menschen- und Bürgerrechten in Einklang zu bringen suchen. Im Übrigen sind von den rund 200 Staaten, die in der UN anerkannt und vertreten sind, 180 nicht so stabil, dass sie diesen Normen entsprechen. Gäbe es Rating-Agenturen für Politik, sähe es in der politischen Wirklichkeit ähnlich desaströs aus wie im momentanen Zustand der Weltwirtschaft.

Man kann Machtmissbrauch nicht abschaffen – aber sichtbar machen

Selbst da, wo es an der Verfassung der Staaten, ihrer garantierten Freiheit, Rechtssicherheit, (theoretischen) Gleichheit nichts zu kritisieren gibt, wo Politiker sich Wahlen stellen müssen, wo Gerichte ihre Macht kontrollieren können, wo ein Gleichgewicht der Kräfte herrscht, Minderheitenrechte geschützt sind, findet der Witz noch genügend Stoff und Themen. Wir leben, wie gesagt, in einer gebrechlichen Welt. Die Demokratie ist nicht die beste aller Staatsformen, sondern nur die am wenigsten schlechte. Die Gleichheit hat Anatole France so definiert, dass sie in ihrer unendlichen Gerechtigkeit es Armen wie Reichen verbietet, unter den Brücken zu schlafen.

Man kann Gier, Geilheit, Heimtücke, Neid, Machtmissbrauch nicht abschaffen, nur – wenigstens theoretisch – öffentlich sichtbar machen. Die Willkür und ihre Einschränkung, die Lüge und ihre Entlarvung, das sind auch im politisch friedlichen Alltag Themen für Witze. Und immer ist der Witz das Kind im Märchen, das sagt: „Aber der Kaiser ist ja nackt.“ Politik lebt überall auch vom Pathos, das sie um sich verbreitet. Der Witz reißt ihr diese verhüllenden Fetzen und Schleier vom Leib.

An diese Stelle passen zwei Witze aus der Breschnew-Ära. Leonid Breschnew regierte nach Chruschtschows Sturz 1964 (der es nach Stalins Sturz immerhin auf eine Herrschaft von elf Jahren gebracht hatte) bis 1982. Bei Machtantritt war er immerhin schon 58 Jahre alt. Es war die Zeit der unendlich langen Agonie des Sowjetstaates, der Herrschaft eines sklerotischen Politbüros, dessen Mitglieder sich misstrauisch beäugten, damit nur ja keine Veränderung stattfinden konnte und ein unbewegliches Gleichgewicht das Land in einer Starre hielt. Es gab keinerlei Rechtssicherheit, keine unabhängige Justiz, keine Wahlen – kurz: Es war eigentlich nicht viel anders als heute in Russland, nur dass offiziell der Marxismus herrschte. Korruption und Vetternwirtschaft gibt es heute wie schon zu Zeiten des Zaren.

Hier also der erste Witz, den ich dem Buch Das komische Manifest. Kommunismus und Satire von 1917 bis 1989 von Ben Lewis verdanke. Er spiegelt die geistige Verkalkung des greisen Sowjetführers wider, Breschnew hatte damals bereits mehrere Schlaganfälle erlitten.

Breschnew verliest eine Rede: „Wer behauptet, dass ich immer nur vom Blatt ablese? Ha, Komma ha Komma ha Komma ha Komma ha.“

Der Witz ist nicht systemgebunden. Er trifft eine lange Herrschaft.

Einen Herrscher, der als Greis entlarvt wird, der längst auf dem Marsch in die Altersdemenz ist. Solche Witze gab es von dem betagten Reichspräsidenten Hindenburg, dessen Alterungsprozess die schnelle Agonie und den galoppierenden Untergang der Weimarer Republik spiegelte.

Die Rede Hindenburgs geht so:

Und hiermit schließe ich mit einem dreifachen Hoch auf das deutsche Vaterland. Es lebe hoch! hoch!

(Pause, Rascheln, weil Hindenburg umständlich umblätterte)

Hoch!

Volkswitz über Kohl und Lübke

Solche Witze streifen das politische System nur am Rande, sie treffen nur seine geriatrische Immobilität und damit die geistige Aushöhlung seiner Führer und Strukturen. (…) Das Gleiche gilt für die Lübke-Witze. Heinrich Lübke war von 1959 bis 1969 Präsident der Bundesrepublik. Besonders in der zweiten Amtszeit, die er durch einen vorzeitigen, als quälend spät empfundenen Rücktritt beendete, machte sich seine fortschreitende Demenz bemerkbar. Schon in seiner ersten Amtszeit war er durch eine knorrig schlichte, sauerländisch getönte Sprache aufgefallen, über die sich der Volkswitz in zahllosen Scherzen lustig machte. So soll er eine Rede in Afrika mit der Ansprache „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger“ begonnen haben. Vor allem das Englisch des „silberhaarigen Sauerländers“ (Der Spiegel) war Gegenstand ständigen Spotts. Er sagte zu Sportlern, sie seien „heavy on wire“ (schwer auf Draht), oder sagte zu Beginn einer Rede: „Equal goes it loose.“ – Gleich geht es los.

Der blödeste Lübke-Witz, so saudumm konstruiert, dass er schon wieder komisch ist, spielte in Indien.

Da zeigte ein indischer Minister dem greisen Staatsgast weite Felder. Und als Lübke fragte, was denn hier angebaut würde, antwortete der Inder: „Alles Jute!“

Darauf Lübke: „Danke! Ihnen auch!“

Solche Witze tauchen vor allem dann auf, wenn Amtszeiten von Politikern als quälend lang empfunden werden. Auch Helmut Kohl musste darunter leiden und wurde, nachdem die Zeitschrift Titanic ihm den Spitznamen „Birne“ verliehen hatte – eine Anspielung auf den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe –, wegen seines Englisch verspottet. Er soll der Eisernen Lady Margaret Thatcher das „Du“ mit folgenden Worten angeboten haben: „I’m Helmut. You may say you to me!“ Allerdings hat er später die heftige Gegnerin der deutschen Wiedervereinigung genial ausgetrickst – darüber gibt es keine Witze. Warum auch!

Manche Witze überleben auch die, die sie reißen

Doch zurück zu Breschnew, zurück in die Agonie der Sowjetunion in der Zeit der Vergreisung. Auch hier ist wohl niemand für die Witze über den sich nur noch wie eine Aufziehpuppe bewegenden Generalsekretär eingesperrt worden.

1974, zu Beginn der Ära der Stagnation, erlitt Breschnew einen Schlaganfall, 1976 einen weiteren. Dazu kursierte folgende Verlautbarung:

Mit großem Bedauern gibt die Regierung der UdSSR bekannt, dass der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und Präsident des Obersten Sowjets, Genosse Leonid Iljitsch Breschnew, nach langer Krankheit und ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, seine Regierungspflichten wieder aufgenommen hat.

Dieser Witz ist gleichzeitig ein Beispiel für die verkalkte und alterserstarrte Sprache der sowjetischen Staatsbürokratie. Auch dieser Witz überlebte nicht nur Breschnew, sondern auch die, die ihn rissen.

Für politisch erstarrte Systeme gilt auch, dass deren höchste Repräsentanten hinter bunten Uniformen mit gewaltigen Ordenreihen auf der Brust auftreten. Es ist so, als gäbe ihnen die Uniform den letzten Halt und ersetze mit ihrem Talmi die fehlende Ausstrahlung.

Die Familie Breschnew isst zu Abend, als das ganze Haus plötzlich wie unter einem Erdbeben erzittert.

„Oh Gott, was ist das?“, fragt erschrocken Tochter Galina.

„Keine Sorge“, sagt ihre Mutter, „das Jackett deines Vaters ist vom Stuhl gefallen.“

Das hätte Göring, dem Caudillo, Gaddafi und jedem südamerikanischen Staatsstreich-Obristen auch passieren können.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Soll das ein Witz sein?“, das 2011 erschienen ist. Vier Jahre später ist Dr. Hellmuth Karasek verstorben.

Hellmuth Karasek

Hellmuth Karasek, Journalist und Schriftsteller, hat Zeit seines Lebens Witze in allen Varianten gesammelt: Diktatorenwitze, jüdische Witze, Arztwitze, Irrenwitze, Männerwitze, Frauenwitze, Elefantenwitze – kein Lebensbereich, der nicht als Witz taugt. Natürlich interessiert er sich dabei auch für den geistigen Hintergrund, für Freuds psychoanalytische Deutung, für die Psychologie hinter der Pointe: Was macht Witze witzig? Gibt es ganz neue oder nur immer wiederkehrende Varianten? Ist der Witz eine wirksame Waffe der Unterdrückten? Unterscheidet sich der Humor von Frauen und Männern?

Angeregt wurde Karaseks Buch „Soll das ein Witz sein?“ von gemeinsamen Auftritten mit Bestsellerautor Eckart von Hirschhausen.

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