

Dr. Sâra Aytaç ist erfahrene Unfallchirurgin. Als Honorarärztin hat sie schon in etlichen Kliniken erlebt, wie dramatisch die Zustände in der Notfallversorgung sind. © Jo Kirchherr
Wahrheit macht einsam.
Das ist an sich nichts Neues. Wenn das allerdings bedeutet, dass niemand Wahrheiten anerkennen will, die buchstäblich tödlichen Folgen haben, dann wird es unromantisch. Was das Gesundheitssystem und insbesondere die Notfallversorgung angeht, sind wir sehr, sehr weit weg von romantischen Zuständen. Wir alle müssen endlich der Wahrheit ins Auge blicken: Die Lage ist katastrophal.
Denn nur wenn wir den dramatischen Ist-Zustand adäquat beschreiben können, sind wir in der Lage, die richtigen Lösungen zu finden. Das gilt für einen physikalischen Versuchsaufbau genauso wie für unser Gesundheitssystem. Wer immer noch daran festhält, das deutsche System sei in jedem Aspekt das Beste weltweit verfügbare System, der wird nicht Teil der Lösung werden.
Ein dramatisches Beispiel für das Versagen des Systems
Bevor ich hier als Unfallchirurgin mit Zusatzbezeichnung Spezielle Unfallchirurgie alle Beteiligten Parteien gekonnt in ihre Einzelteile filetiere und maximale Verwirrung stifte, werde ich es lieber anhand einer Patientengeschichte zu erläutern versuchen:
Ein Kleinkind, etwas mehr als zwei Jahr alt, befindet sich mit seinen Sorgeberechtigten in einem Fahrzeug. Es sitzt auf der Rückbank, als ein Autounfall passiert. Allen Freunden der schnellen Fortbewegung sei hier in Erinnerung gerufen: ein Frontalaufprall, führt bereits bei einer Geschwindigkeit von 30km/h mit oder ohne Anschnallgurt aufgrund der Negativbeschleunigung zum Ab- oder Einriss der vom Herzen wegführenden Aorta (so dick wie ein Gartenschlauch) von ihrer bindegewebigen Aufhängung zu benachbarten Blutgefäßen und Brustkorbstrukturen, kurz:
Man ist (in fast allen Fällen) tot.
Der Assistenzarzt ist restlos überfordert, sprachlich und fachlich
Die Familie in diesem Fall hatte jedoch Glück und alle überleben zunächst offenbar leichtverletzt. Die Eltern kommen in ein unfallortnahes kleines Krankenhaus, das Kleinkind in ein anderes kleines, vergleichbarer Einsatzklasse, allerdings mit Kinderheilkunde. Der Aufnahmebefund des Kleinkindes lautet – nach Korrektur der Rechtsschreibung und des Satzbaus, da von nicht deutschsprachigem Assistenzarzt verfasst: keine äußeren Verletzungen, neurologisch unauffällig, zur Überwachung aufgenommen.
In den nächsten drei Tagen geht es dem Kind zusehends schlechter. Statt sich von einem harmlosen Verkehrsunfall ohne Unfallfolgen rasch zu erholen, beginnt es Fieber zu entwickeln. Es isst und trinkt entsprechend nicht recht, hat entsprechend keinen Stuhlgang und scheidet nur wenig Urin aus. Die Eltern werden in dem anderen Krankenhaus behandelt, weiteren Untersuchungen und Therapien unterzogen und gelangen nicht zu ihrem Kind. Am dritten Tag ordnet ein Oberarzt, der das Kind selber nie zu Gesicht bekam, die Verlegung des Kindes in die nächstgelegene große Uniklinik mit Kinderintensivstation an. Es wird ein nichtssagender, hilfloser Verlegungsbrief formuliert, der Assistenzarzt ist restlos überfordert, sprachlich und fachlich.
Die im höchsten Maße erfahrene Oberärztin der Kinderintensivstation des entgegennehmenden Hauses hat kaum Personal, das ihr zur Seite steht. Erfahrene Pflegekräfte gibt es schon lange nicht mehr, Assistenzärzte arbeiten halbtags und sind schlecht ausgebildet, weil Zeit und Interesse fehlt. Sie muss die Behandlungszeit für diesen neuen Patienten bei einem anderen Patienten „stehlen“. Ebenso wie sie stundenlang telefonieren und sich persönliche Beleidigungen anhören muss, um überhaupt ein Intensivbett für den Patienten zu bekommen.


Die Krankenhaus-Versorgung in Zahlen
- In Deutschland gibt es 1887 Krankenhäuser.
- 2021 wurden 9,8 Millionen ambulante Notfälle behandelt, also durchschnittlich 26.800 pro Tag.
- Knapp ein Drittel der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen entfallen auf die Behandlung in Krankenhäusern, 2020 entsprach das 81,5 Mrd. Euro.
- Laut einer Umfrage des Deutschen Krankenhaus Instituts halten 94 % der Krankenhäuser eine grundlegende Struktur– und Finanzierungsreform im Krankenhausbereich für notwendig.
Fundamental falsche Einschätzung aus Überforderung
Dennoch ist ihr schon nach wenigen Sekunden mit unserem Patienten klar, dass die initiale assistenzärztliche Einschätzung am Unfalltag fundamental falsch und schlicht stümperhaft war – weil der Arzt unerfahren, allein gelassen und somit gänzlich überfordert war: Das Fieber des Patienten erklärte sich durch eine Lungenentzündung.
Wie hat ein Verkehrsunfall eine Lungenentzündung zur Folge? Lungenentzündungen entstehen durch eine gestörte Abwehrlage im Lungengewebe. Sei es zum Beispiel aufgrund eines aggressiven unbekannten Erregers, der die herkömmlichen immunologischen Schachzüge matt setzt, oder Teile der Lunge unzureichend belüftet werden, beispielsweise nach Rippenbrüchen. Der Patient atmet dann aufgrund seiner Schmerzen sehr flach, die normale Reinigungsfunktion der Lungenoberfläche durch Abtransport von Schleim ist nicht gewährleistet und es kommt erst lokal, dann im ganzen Gewebe zur Entzündungsreaktion.
Verlassen Sie sich nicht darauf, dass jemand Ihre Schmerzen erkennt
Oder (wie in unserem Fall) weil der wichtigste Muskel zur Durchführung der Atmung, das Zwerchfell, gelähmt ist. Weil das Kind beim Unfall eine Zerrung des Rückenmarkes erlitten hatte, die eine Querschnittslähmung zufolge hat. In diesem Fall eine hohe Lähmung im Bereich der oberen Halswirbelsäule.
Das bedeutet, dass das Kind weder Arme noch Beine bewegen konnte, es gelang ihm kaum zu atmen. Es kämpfte seit dem Unfall buchstäblich um jeden Atemzug. Machen Sie einen Selbstversuch, um sich in die Lage unseres kleines Patienten hineinzuversetzen: Sprinten Sie 100 Meter, so schnell Sie Ihre Beine tragen. Und atmen Sie in der Ziellinie nur durch einen Capri-Sonne Strohhalm ein und aus. Und das 3 Tage lang. Und bedenken Sie: Es versteht Sie keiner, weil Sie noch nicht sprechen können. Gehen Sie besser nicht davon aus, dass irgendjemand Ihre verzerrten Grimassen als Ausdruck offensichtlicher Qual erkennt – das hat in unserem Beispielfall auch nicht funktioniert.
Die richtige Behandlung zu Beginn ist ausschlaggebend
Eine Querschnittslähmung infolge eines Unfalls hat immer eine schlechte Prognose. Während sich bei Erwachsenen (natürlich abhängig davon, welche Verletzungen ansonsten vorliegen und ob das Rückenmark „nur“ gezerrt bzw. geprellt oder zerrissen ist) häufig wenig Regeneration auf Zellniveau zeigt, wird dem kindlichen Nervensystem eine deutlich größere Heilungsfreudigkeit zugesprochen. Allerdings nur, wenn die Verletzung initial erkannt und adäquat in dieser Heilung unterstützt wird, versteht sich. Wenn stattdessen eine grausame Komplikation wie eine Lungenentzündung hinzukommt, besteht akute Lebensgefahr. Der kleine oder grosse menschliche Organismus droht den Kampf an den vielen akuten Fronten zu verlieren.
Unser Fall ereignete sich mitten in Deutschland, 40 Autominuten von einer Uniklinik entfernt, in einem Land der ersten Welt. Mit dem vermeintlich besten Gesundheitssystem der Welt. Die Komplexität dieses Falls ist sinnbildlich für das Problem des Gesundheitssystems der Gegenwart.
Was muss sich am Gesundheitssystem ändern?
Wer trägt „Schuld“? Ich sträube mich dieses Wort in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Denn es impliziert, dass mit einem „rollenden Kopf“ alles wieder gut wird.
Das ist nicht der Fall.
Doch es lassen sich durchaus Faktoren benennen, die dazu führen, dass die Situation in der Notfallmedizin hierzulande mitunter unhaltbar ist:
- Fehlende Wertschätzung aufgrund eines veränderten gesellschaftlichen Moralverständnis mit konsekutiv niedriger Bezahlung in Berufen an, im und mit dem Menschen.
- Personalmangel mit resultierender übermenschlicher psychischer wie physischer Belastung der einzelnen Leistungsträger.
- Die Ausbeutung von Mitarbeitern, die süchtig sind nach der Droge Medizin, ist das Fundament dieses gesamten Industriezweigs.
- Der berechnende Einsatz von ehrgeizigen, strebsamen, manipulierbaren akademischen Spielfiguren, die geködert werden mit Status und Geld.
Prof. Steiner, Verfassungsrichter a.D. , bringt es treffend auf den Punkt: „Es gibt im deutschen Gesundheitswesen mehr Warlords als in Afghanistan! Auch deshalb brennt die Medizin….“
Dr. Sâra D. Aytaç
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