

Die Gleislinie in das Konzentrationslager Auschwitz. Heinrich Himmler ließ das Lager dort errichten, weil er sich von der guten Anbindung an das Bahnnetz eine effiziente Abwicklung der Judenvernichtung versprach. (c) Shutterstock /Diego Grandi
Man trieb uns in ein leeres Gebäude mit Lehmboden. Da man bei dem spärlichen Licht kaum etwas sah, konnten wir nur die Augen der anderen ausmachen und die Anspannung und Emotion darin. Und die Angst… vor allem Angst.
Wir – die Mädchen und Frauen aus Michalovce – versuchten, so gut es ging, zusammenzubleiben. Manche begannen, ihre schweren Mäntel abzulegen.
Und dann… nichts. Es schien keine Wachen zu geben, aber natürlich waren wir eingesperrt, sodass wir ohnehin nirgends hinkonnten.
Nach etwa ein, zwei Stunden brachte eine Gruppe deutscher Insassinnen riesige Kessel mit Tee ins Gebäude. »Trinkt, wenn euch danach ist, aber denkt daran, dass er vergiftet ist«, sagten sie, während sie die Töpfe abstellten, und dann verschwanden sie.
Es schmeckte grauenhaft – war aber nicht vergiftet
Nach zwei Tagen ohne Essen und Trinken war das grausame Folter. Und es ergab einfach keinen Sinn. Warum sollte man sich all die Mühe machen und uns hierher schaffen, wenn man uns gleich am ersten Tag vergiftete? Ich war mir sicher, dass sie logen, und erklärte mich bereit, ein Schlückchen Tee zu probieren. Er schmeckte grauenhaft, kaum besser als Spülwasser, doch weder erbrach ich mich noch würgte ich. Ich versuchte ein wenig mehr und war noch immer wohlauf.
Später kehrten die Deutschen mit einem Kessel lauwarmer Suppe zurück und meinten, wir dürften ihnen ruhig glauben, diesmal sei der Inhalt tatsächlich vergiftet. Wieder kostete ich vor. Es war ein ekelhaftes Gebräu aus fauligem, gärendem Gemüse in Schmutzwasser, und obwohl es noch widerlicher schmeckte als der Tee und ich es zunächst nicht bei mir behalten konnte, war es nicht vergiftet. Ich hielt mir die Nase zu und nahm einen weiteren Schluck, und diesmal wurde mir nicht schlecht. Ich ermunterte die anderen, davon zu essen, nur um etwas Warmes im Bauch zu haben.
Niemand wagte es sich zu rühren
Nun konnten wir nur noch versuchen zu schlafen. Meinen Muff unter dem Kopf, lag ich auf dem Boden, schmiegte mich in den Pelzkragen meines Mantels und hatte die Hände in den Ärmeln hochgezogen. Ich schloss die Augen und versuchte zu begreifen, was seit dem Verlassen unserer Elternhäuser mit uns geschehen war und was uns womöglich noch bevorstand. Tausend Mädchen mit tausenderlei Gefühlen weinten und schliefen um mich herum.
Als es ein wenig heller wurde, konnten wir unsere Umgebung allmählich besser erkennen. Mit seinen Reihen zwei- und dreigeschossiger Backsteingebäude wirkte der Ort wie eine Kaserne. Durch einen Zaun in einiger Entfernung konnten wir andere Mädchen erkennen, die Kleidungsstücke trugen, die nach zu großen, schmuddeligen Armeeuniformen aussahen, während ihre Köpfe wirkten, als habe man sie schlampig rasiert. Sie gaben uns Zeichen, wenn wir zunächst auch nicht begriffen, warum. Manche schienen sich zu kratzen, andere deuteten auf ihre Münder, Handgelenke oder Hälse. Sie wirkten ganz schön verrückt, als seien sie einem Irrenhaus entsprungen. Vielleicht wollten sie etwas zu essen, dachte ich, doch später verstanden wir, was sie uns sagen wollten: Wir sollten ihnen unsere Armbanduhren, unseren Schmuck, ja sogar unsere Kopftücher hinüberwerfen. Doch weshalb nur? Und wie lange waren sie wohl schon da, dass sie so verängstigt und hilflos wirkten? Bald sollte ich erfahren, dass auch diese Mädchen aus der Slowakei stammten und nur zwei Tage vor uns eingetroffen waren, mit jenem Transport nämlich, der später als »erster« bekannt werden sollte.
Nach und nach waren einige der Mädchen um mich herum der Kälte nicht mehr gewachsen. Erschöpft, geschwächt und verängstigt kippten sie um. Mir fiel ein kräftig wirkendes Mädchen auf, das mir erzählte, es stamme aus Bratislava. In unbeobachteten Momenten trugen sie und ich die zusammengebrochenen Mädchen nach hinten und betteten sie auf den Boden, bis sie sich wieder erholt hatten.
Schließlich trafen weitere Wachen und deutsche Gefangene ein. Ein Offizier bellte, wir sollten uns bewegen:
Nackt und zitternd standen wir da
Wir erreichten ein Gebäude, das sie als »Sauna« bezeichneten und wo man uns aufforderte, uns erneut in Reihen aufzustellen. Weil ich gelaufen war, fand ich mich ziemlich weit vorn wieder, als man einige von uns anwies, hineinzugehen und uns registrieren zu lassen.
Doch die Demütigungen hatten erst begonnen.


"Denkt ihr manchmal an uns?"
Ein Brief von Magda Hellinger an den Brauereibesitzer in Michalovce aus Birkenau im Jahr 1943. Mit dem verschlüsselten Brief ließ sie die Familien ihrer Mithäftlinge wissen, dass sie noch am Leben waren.
Unsere Lagerälteste, unsere Magda, war eine rechtschaffene Person. Und ich danke der Vorsehung, dass sie so war, nämlich ein Mensch, der glaubte und darauf vertraute, dass wir eines Tages wieder Menschen sein würden. Jemand, der uns überall und jederzeit voller Güte beigestanden, uns verteidigt und gerettet hat.
Was war eine Lagerälteste im KZ?
Um die Abläufe im Konzentrationslager zu organisieren, bestimmten die SS-Aufseher einige wenige Häftlinge, die als eine Art Bindeglied zwischen Insassen und Aufsehern bzw. Lagerleitung dienten. Magda war für 30.000 Häftlinge zuständig und musste ständig damit rechnen, dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn eine von ihnen sich nicht zur Zufriedenheit der SS verhielt. Andererseits brachte die Aufgabe erweiterte Möglichkeiten mit sich – und Magda Hellinger nutzte diesen Umstand, um möglichst viele Leben zu retten. „Lagerälteste zu sein war ein bitteres Los … dreißig- bis vierzigtausend auf Tierniveau erniedrigte Menschen zusammenzuhalten, so etwas wie eine Ordnung aufrechtzuerhalten, während man gleichzeitig die teuflischen Befehle der SS-Aufseher auszuführen hatte“ – so beschreibt Gisella Perl, eine Auschwitz-Überlebende die Position der Lagerältesten.
Ein Stück Stoff mit einer Nummer
Im nächsten Raum wartete eine Gruppe von Männern, von denen jeder eine große Schere hielt. Jede von uns musste sich vor einen von ihnen hinstellen. Während sie miteinander plauderten und lachten, schnitten sie uns nun die Haare vom Kopf, möglichst nah an der Kopfhaut, um uns im Anschluss die Haare aus den Achselhöhlen zu säbeln. Zuletzt wurden uns noch, während wir auf kleinen Hockern standen, die Schamhaare entfernt. Die Männer ließen keinerlei Sorgfalt walten, sowieso waren ihre Scheren so stumpf, dass die meisten von uns Schnitte und Prellungen davontrugen. Immer noch nackt, wurden wir anschließend nach draußen geschoben und über einen Hof zu einem anderen Gebäude getrieben, in dem große Tanks mit trübem, chemisch riechendem Wasser standen. Man befahl uns, jeweils zu zehnt in dieses »Hygiene«-Bad zu steigen, dessen Wasser eisig war und so tief, dass es uns bis zum Hals reichte. Als wir wieder herausstiegen, ließ man uns triefnass und nackt stehen, bis man uns schließlich in einen anderen Raum weitergehen ließ, wo man jeder von uns eine Hose, ein Hemd, ein Paar aus flachen Holzsohlen und Lederriemen bestehende »Pantinen« sowie einen Holznapf und einen Löffel aushändigte. Wir wurden nach unseren Namen gefragt und erhielten einen gelben Stern sowie ein Stück Stoff mit einer Nummer darauf – in meinem Fall die 2318. Name und Nummer wurden sodann in einem großen Buch vermerkt. Ich hielt mit einer Hand meine viel zu große Hose hoch und presste mit der anderen mein Hemd zusammen; keins von beiden hatte Knöpfe. Während wir im Freien standen und darauf warteten, dass auch die hinter uns »registriert« wurden, merkten wir, dass unsere abgetragenen, schmuddeligen Kleidungsstücke den roten Stern der Sowjetarmee trugen. Es musste sich wohl um die Uniformen von ehemaligen Kriegsgefangenen handeln. Was aus den Gefangenen geworden war, wussten wir nicht, doch da auf vielen der Kleidungsstücke eingetrocknete Blutflecke zu sehen waren, ließ sich nicht allzu schwer erraten, weshalb ihre ursprünglichen Besitzer sie nicht mehr benötigten.
Und bald erfuhren wir auch, weshalb die Frauen, die wir kurz zuvor hinter dem Zaun gesehen hatten, sich kratzten: Diese Uniformen waren voller Läuse. Läuse, die von da an zu unseren ständigen Begleitern wurden.
Lebenslang gebrandmarkt
Der letzte Registrierungsschritt wurde an diesem ersten Tag noch nicht vorgenommen. Ich weiß nicht mehr, wann genau er stattfand, doch es muss innerhalb der ersten zwei Wochen gewesen sein. In jedem anderen Konzentrationslager, das lehrt uns die Geschichte, genügte eine auf die Kleidung aufgenähte Seriennummer, um die Gefangenen zu identifizieren. In Auschwitz jedoch bedurfte es einer dauerhafteren Kennzeichnung – einer Tätowierung, die uns für immer als Insassinnen von Auschwitz brandmarkte. Und so wurde ich mit ein paar Nadelstichen in die Haut meines äußeren linken Unterarms zu Häftling Nummer 2318 auf Lebenszeit.
Dieser Text ist der Bericht einer der wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau Magda Hellinger.
Was war Auschwitz-Birkenau?
In Auschwitz-Birkenau errichtete das Nazi-Regime sein größtes Vernichtungslager. Neben dem Stammlager Auschwitz (Auschwitz I), dem Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II) und dem Konzentraktionslager Monowitz (Auschwitz III) gab es etwa 50 weitere Außenlager.
Auschwitz I
Auschwitz I entstand auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne. Heinrich Himmler ließ 1940 das Lager dort bauen, weil er sich vom Bahnanschluss Auschwitz‘ gute Bedingungen für eine schnelle Deportation der Juden versprach. Am 20. Mai 1940 trafen die ersten Häftlinge im Vernichtungslager ein.
Auschwitz II
Der Bau von Auschwitz II (KZ Auschwitz-Birkenau) erfolgte mit dem Ziel der systematischen und industriellen Vernichtung von Menschenleben in großen Gaskammern mit angegliederten Krematorien.
Auschwitz III
Auschwitz III wurde auf Initiative und Kosten der I.G. Farben AG gebaut. Die Häftlinge wurden zu Arbeit unter schlechtesten Bedingungen gezwungen. Wer arbeitsunfähig wurde, kam ins Vernichtungslager Auschwitz II.
Wie viele Menschen sind in Auschwitz gestorben?
Von 1940 bis 1945 ermordeten die Nazis im Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau systematisch rund 1,1 Millionen Menschen. Die allermeisten von ihnen, mehr als eine Million, waren Juden. (Quelle)
Wie viele Häftlinge haben Auschwitz überlebt?
Historiker konnten rekonstruieren, dass von den Deportierten insgesamt 223.000 das Lager Auschwitz lebend verlassen haben. Das bedeutet aber nicht, dass alle von ihnen der Ermordung durch die Nazis entgehen konnten: 213.000 Häftlinge wurden in andere Konzentrationslager verlegt. Viele von ihnen, insbesondere jene, die gegen Ende des Krieges zu langen Todesmärschen gezwungen wurden, starben auf dem Weg.
1.500 Häftlinge wurden aus Auschwitz entlassen, 500 konnten fliehen und 8.000 befreit werden. (Quelle)
Was waren die Todesmärsche?
Als 1945 die Allierten vorrückten, räumten die Nazis das Vernichtungslager Auschwitz und schickten die Insassen auf einen Marsch gen Westen. Zu dem Zeitpunkt waren in Haupt- und Nebenlagern des Komplexes Auschwitz noch 67.000 Häftlinge. Mit Zügen hätte die Verlegung in einer solchen Dimension nicht schnell genug durchgeführt werden können. Auf den Märschen zu Eisenbahnknotenpunkten und in andere KZs starben nach Schätzungen 9000 bis 15.000 Menschen. Auch aus anderen Konzentrationslagern organisierte die SS Todesmärsche. (Quelle)
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