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Wer sind diese Menschen, die unsere Demokratie abschaffen wollen? © Shutterstock

Mit der großangelegten Razzia in der Reichsbürger-Szene haben die Sicherheitsbehörden der Szene einen Schlag versetzt – aber auch jeden Zweifel darüber ausgeräumt, dass eine reale Gefahr von Reichsbürgern ausgeht. Die Polizisten haben zahlreiche Waffen sichergestellt, es ist von konkreten Umsturzplänen und vom Plan, den Reichstag zu stürmen, die Rede. Es wäre „fatal“, die Bedrohung zu unterschätzen, die von der zum Teil rechtextremen Reichsbürgerszene ausgeht, sagt Publizistin Katharina Nocun, Expertin für Verschwörungserzählungen.

Warum ist die Gefahr real? Was geht in den Reichsbürgern vor? Was sind ihre Ziele und vor allem: was ist das ideologische Fundament und die Grundlage für die massiven Attacken und den vehementen Kampf gegen den deutschen Staat, die Demokratie und unsere Verfassung? Warum sind Reichsbürger so überzeugt davon, dass sie das Recht haben, auch mit Gewalt gegen den Staat vorzugehen?

Was sind Reichsbürger?

Reichsbürger weigern sich, die Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtsordnung anzuerkennen. Sie sind der Meinung, dass dem heutigen Staat die rechtsstaatliche Grundlage fehle. Daraus schließen sie, das Recht zu haben, sich abseits der geltenden Staatsverfassung selbst zu organisieren und zu verwalten. Beispielsweise stellt die Reichsbürger-Szene ihren Mitgliedern eigene Ausweispapiere aus oder nutzen abweichende Autokennzeichen. Da Reichsbürger der Bundesrepublik Deutschland ihre Rechtsstaatlichkeit absprechen, gelten aus ihrer Sicht weder Anweisungen von Behörden, noch die deutschen Gesetze für sie. Daher fallen Reichsbürger schon seit langem bei Ämtern dadurch auf, absurde Anträge zu stellen, Steuerzahlungen zu verweigern oder Beschäftigte von Behörden zu beschimpfen oder zu bedrohen. Selbst bezeichnen sich Reichsbürger auch als „Natürliche Personen“ und „Selbstverwalter“.

Wie sind die Reichsbürger organisiert?

Experten beschreiben die Szene als eine Ansammlung von etlichen kleinen Gruppen, die zwar die Ablehnung der hiesigen Staatsordnung eint, aber keine gemeinsame Organisationsstruktur. Es gibt keine zentrale Führung. Katharina Nocun hat für ihr Buch „Fake Facts“ auch die Szene der Reichsbürger recherchiert und berichtet: „Manche Reichsbürger bilden eigene Fantasiestaaten oder Königreiche, andere sehen sich selbst als staatenlose Aussteiger (sogenannte Selbstverwalter). Typisch für Reichsbürger ist ihre Obsession mit Behörden und Verwaltungsvorgängen. Dies äußert sich in der Erstellung von Fantasiedokumenten oder der Beantragung von sogenannten Staatsangehörigkeitsausweisen. Während Reichsbürger den deutschen Staat ablehnen, bauen sie beinahe exzessiv eigene Behördenstrukturen auf. Auch die Übernahme von Pseudoämtern ist in der Szene geläufig. Dabei werden sich dann in Eigenregie abstruse Titel und Posten verliehen. In den Fantasiestaaten gibt es teils Reichsministerien, Reichspostministerien oder sogar Rechnungshöfe.“

Wie groß ist die Reichsbürger-Szene?

Der Verfassungsschutz geht von etwa 21000 Personen in Deutschland aus, die der Szene angehören. Es ist davon auszugehen, dass etwa 10 Prozent davon gewaltbereit sind.

Wie argumentieren Reichsbürger? Worauf beruft sich die Reichsbürger-Szene?

Ausgangspunkt ist die Annahme, das Deutsche Reich bestehe bis heute. Reichsbürger vertreten die Auffassung, dass die Weimarer Republik aus verfassungsrechtlicher Sicht sowohl die Zeit des Dritten Reichs als auch die Besatzungszeit nach dem Krieg, in der die Alliierten die Regierungsgewalt in Deutschland übernommen haben, sowie die Gründung der Bundesrepublik und auch den Zusammenschluss von BRD und DDR überdauert habe.
Eine wichtige Rolle im Rahmen der Diskussion, ob nun das Deutsche Reich bis heute existiere, spielt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1973. Darin führt das Gericht aus, dass das Grundgesetz davon ausgehe, „dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist.“ Das Deutsche Reich sei nach wie vor rechtfähig, aber nicht handlungsfähig, weil ihm seit der Besatzung durch die Alliierten schlicht die dazu unverzichtbaren institutionalisierten Organe fehlten.
Eine Reihe von „Reichsregierungen“ sehen sich nun als ebendiese fehlenden Organe und als legitimiert an, dem Deutschen Reich zur Handlungsfähigkeit zu verhelfen. Dass sie sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht berufen, also einem Verfassungsorgan, dem sie per se die Rechtmäßigkeit absprechen, scheint kein Widerspruch zu sein, der die Reichsbürger irritiert.

Sind alle Reichsbürger rechtsextrem?

Nein, Reichsbürger sind nicht generell der rechtsextremen Szene zuzurechnen. Der Verfassungsschutz stellt fest, dass die meisten Reichsbürger keine rechtsextremen und nationalsozialistischen Ideologien vertreten. Allerdings gibt es etliche Berührungspunkte und Schnittmengen zwischen Rechtsextremen und Reichsbürgern, weil die Verschwörungserzählungen und Erklärungsmuster, die in Kreisen der Reichsbürger verbreitet werden, an antisemitische Narrative der Rechten angrenzen oder sich sogar mit ihnen decken. Prägende Köpfe der Szene waren und sind Rechtsextreme.

Warum sind die Reichsbürger gefährlich?

Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass von den etwa 21000 Reichsbürgern in Deutschland jede:r Zehnte gewaltbereit ist, mit zunehmender Tendenz. Im Jahr 2020 wurden der Szene noch 599 extremistische Straftaten zugeordnet, 2021 waren es schon 1011 – die meisten davon waren Fälle von Erpressung, Nötigung, Bedrohung oder Widerstandsdelikte. Jüngst wurde bekannt, dass eine Gruppe aus der Szene geplant hatte, Bundesminister Karl Lauterbach zu entführen.
Als Expertin für Verschwörungserzählungen ordnet Katharina Nocun ein: „Verschwörungserzählungen und Gewaltaffinität spielen in diesem Milieu eine zentrale Rolle. Der Staat wird als Feind betrachtet, der die Bevölkerung belügt und ihr schaden will. Reichsbürger sind oftmals im Besitz eines Waffenscheins, immer wieder finden sich legale und illegal beschaffte Waffen bei ihnen zu Hause. Einige Bundesländer sind daher dazu übergegangen, bekannten Reichsbürgern den Waffenschein zu entziehen.“
Ein frühes Beispiel für gewaltbereite Reichsbürger ist Adrian Ursache. Um sich gegen die Zwangsräumung seines Hauses zu wehren, versammelte er etwa 120 Reichsbürger um sich, die die Räumung verhinderten. (Unter ihnen Wolfgang Plan, der zwei Jahre später einen SEK-Beamten töten wird.) Als tags darauf 200 Polizeibeamte kommen, um Ursache festzunehmen, werden sie gebissen, beworfen, mit Waffen bedroht.

Unter welchen Namen haben sich Reichsbürger zusammengeschlossen? Welches sind die wichtigsten Gruppen innerhalb der Szene?

Die „Kommissarische Reichsregierung“ hat als Gruppe die Reichsbürgerbewegung zu Beginn spürbar geprägt. Deren Gründer, der Eisenbahner Wolfgang Ebel, bezeichnete sich als „Reichskanzler des Staates Deutsches Reich“. Unter anderem wegen Amtsanmaßung und Todesdrohungen fand sich Ebel mehrfach vor Gericht, die Prozesse wurden allerdings eingestellt, weil Ebel als schuldunfähig galt.
Mit dem Deutschen Kolleg und der Völkischen Reichsbewegung traten später dann größere Zusammenschlüsse von Reichsbürgern auf den Plan. Und in diesem Zusammenhang taucht auch ein bekannter Name auf: Horst Mahler, Rechtsextremist und früherer RAF-Anwalt, leitete für einige Jahre das Deutsche Kolleg. Erklärtes Ziel: Ein „Viertes Reich“ und die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Der Verfassungsschutz bescheinigte Mahler und seinen Gefährten in seinem Bericht von 2002 „aggressiven Antisemitismus und Rassismus“. Mahler war es auch, der 2003 eine „Verkündigung der Reichsbürgerbewegung“ veröffentlichte.
Weitere, im Gegensatz zum Deutschen Kolleg noch aktive Reichsbürger-Gruppen sind zum Beispiel die rechtsextremistische „Exilregierung Deutsches Reich“ samt „Reichskanzler“, und die antisemitische und rechtsextreme „Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen“. Reichsbürger gründeten den „Volks-Bundesrath“, den „Volks-Reichstag“, geben die „Deutsche Reichszeitung“ heraus oder versuchen, mit der „Interimpartei Deutschland“ Einfluss zu nehmen. In Baden-Württemberg gibt es seit 2007 „Germanitien“, in Brandenburg das „Fürstentum Germania“, in Leipzig wurde die „Republik Freies Deutschland“ ausgerufen, in Wittenberg residierte lange ein Koch als „König von Deutschland“. Die „Heimatgemeinde Chiemgau“ sitzt in Oberbayern, der „Bundesstaat Bayern“ bei München. Unter dem Namen „Freistaat Preußen“ haben sich gleich mehrere Gruppen zusammengeschlossen.

Wer ist Heinrich XIII. Prinz Reuß?

Heinrich Reuß gilt als einer der führenden Köpfe in der rechtsextremen „Patriotischen Union“. Weitere Personen, die dieser Gruppe zugeordnet werden, sind Birgit Malsack-Winkemann, ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin, ein Oberst a.D., ein ehemaliger AfD-Stadtrat und ein früheres Mitglied der KSK.

Heinrich Reuß lebt in Frankfurt und besitzt außerdem ein Jagdschloss in Thüringen. Er ist Ingenieur und Immobilienunternehmer.

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