

Bellingcat hat belegt: Die Russen haben Waffen in die Ukraine geliefert. © shutterstock
Ein Student konnte belegen, dass der Malaysia Airlines-Flug MH17 von einer russischen Luftabwehrrakete über ukrainischem Boden abgeschossen wurde – im Jahr 2014, in der Anfangszeit des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Den offiziellen Ermittlern war er damit um Längen voraus und das ausschließlich mit Hilfe frei zugänglicher Quellen: Der erste sensationelle Erfolg von Bellingcat, eines Open-Source-Recherchenetzwerks. Die Gruppe um Eliot Higgins hat damit die Methode der Open-Source-Recherche endgültig etabliert. Wie haben Higgins und seine Leute das angestellt? Eine Chronik der Ereignisse:
Ein russischer Elitesoldat auf „Dienstreise“ – undercover
Am Tag nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 überquerte Ilja Gorely, ein russischer Elitesoldat, die Grenze zwischen Russland und der Ukraine – undercover, denn der Kreml behauptete zu der Zeit, keine Truppen in die Ukraine entsandt zu haben. Allerdings machte Gorely beim Grenzübertritt ein Selfie und postete es auf Instagram. »Dienstreise«, kommentierte er. »Das gehört schließlich zu unserem Job.« Dem fügte er ein paar Gewehr-Emojis bei. Zwei Tage darauf ein neues Foto: Gorely und ein anderer Mann im Auto; einer hielt ein Makarow-Gewehr, der andere ein Kampfmesser der Spezialstreitkräfte in der Hand. Der Russe fügte Hashtags hinzu, die sich auf die »kleinen grünen Männchen« bezogen – inoffizielle russische Streitkräfte, die seit Februar 2014 die Halbinsel Krim besetzt hielten, sowie auf die ALFA-Gruppe, eine Spezialeinheit. Später fügte er hinzu: »Ich bin gestern früh ins Bett … Hatte zwei Tage lang nicht geschlafen, weil wir kreuz und quer in der Ukraine herumgefahren sind; das Training lief sehr gut; wir haben sie merken lassen, dass wir da sind.« Offenbar bedeutete »Training« und »haben sie merken lassen, dass wir da sind« nichts anderes, als dass es zwischen ihm und seinen Kumpanen sowie der ukrainischen Armee zu kleineren Gefechten gekommen war. Dann postete er ein neues Selfie, auf dem er in T-Shirt, Cargo-Shorts, Flipflops und mit vorgerecktem Sturmgewehr zu sehen ist. Auf dem Foto war als Absendeort DNR vermerkt, das russische Akronym für Donetsk Volks Republik, die Eigenbezeichnung der Separatisten.
Ein Student auf Spurensuche im Netz
All das konnte man in einem offenen Account lesen, wo es auch dem Studenten Iggy Ostanin aufgefallen war. Als MH17 abstürzte, lebte Iggy nämlich in den Niederlanden und von dort kamen 193 der Absturzopfer – für so ein kleines Land ein besonders schrecklicher Verlust. Iggy wollte wissen, was die Menschen in den russischen sozialen Medien darüber sagten, und klickte sich von Link zu Link – bis er zufällig auf jenen Instagram-Account des SpezNas-Soldaten Gorely stieß, der damit prahlte, in Kämpfe auf ukrainischem Gebiet verwickelt gewesen zu sein.
Iggy fand, das sei durchaus eine Nachricht wert, und stieß sogar noch auf andere ähnliche Hinweise in den sozialen Medien. Er bot seine Informationen einigen Nachrichtenportalen an, aber dort zeigte man wenig Interesse. Im Netz stieß er auf Eliot Higgins und so schickte er ihm eine kurze Notiz über das, was er gefunden hatte – und Higgins‘ Netzwerk Bellingcat machte die Infos öffentlich.
Hat das russische Militär die Mordwaffe geliefert?
Aber das war erst der Anfang: Als Nächstes sah sich Iggy das in Paris Match veröffentlichte Foto eines Lenkwaffenstarters (Buk) an, welches aus einem vorbeifahrenden Auto in einer Straße von Donetsk, einer der beiden Separatisten-»Volksrepubliken« im Osten der Ukraine, aufgenommen worden war. Auf der Seitenwand des Fahrzeugs konnte Iggy eine Kennzeichnung erkennen, aber sie war zu schwach, um sie entziffern zu können. Ein möglicher Grund: Wenn die Russen Ausrüstungsmaterial in die Ukraine liefern, werden Kennzeichnungen in der Regel übermalt, aber die Soldaten sind bei der Ausführung oft nachlässig. Iggy versuchte, sie mit einigen technischen Tricks lesbar zu machen, aber das funktionierte so nicht.
Seine Hypothese lautete: Das russische Militär hatte den Separatisten ein hochmodernes Waffensystem überlassen, und die inkompetenten Milizionäre hatten eine Rakete abgefeuert, weil sie die überfliegende Passagiermaschine MH17 für ein ukrainisches Militärflugzeug hielten. Falls die Russen tatsächlich den Separatisten das Buk geliefert hatten, konnte das eigentlich nur über Land von einer russischen Militärbasis aus geschehen sein. In dieser Region waren Dashcams ein verbreitetes Hobby, sodass es nicht unwahrscheinlich war, dass jemand den Buk-Transport in Russland gefilmt hatte.
Falls Iggy einschlägiges Bildmaterial im Netz finden konnte, wäre das der Beweis, dass das russische Militär die Mordwaffe geliefert hatte.
Die Suche nach der Nadel im digitalen Heuhaufen
Bisher hatte sich Bellingcat fast nur mit Clips und Fotos befasst, die mehr oder weniger auffällig durchs Internet geisterten. Ohne dass Iggy sich darüber im Klaren gewesen wäre, wie innovativ sein Vorgehen war, stürzte er einfach mitten in den Heuhaufen und suchte die Nadel, von der niemand wusste, ob sie überhaupt existierte. Die Herausforderung bestand darin, richtig zu formulieren, was man suchte. Nur einfach »Buk« als Suchbegriff einzugeben, würde nicht funktionieren. Nicht jeder kannte die genaue Bezeichnung eines bestimmten Waffensystems, wenn es gerade an einem vorbeirumpelte.
Iggy loggte sich bei Instagram ein, wo er schon im Fall des SpezNas-Soldaten gut vorangekommen war, und suchte dort mit geläufigeren Begriffen wie „Luftabwehrsystem“. Auf einem Instagram-Foto war ein Buk auf einem Militärtransporter zu sehen. Die Aufnahme stammte vom 23. Juni 2014, also rund einen Monat vor dem MH17-Absturz. Dieses Buk mit der deutlich lesbaren Nummer 232 an der Seitenwand wirkte neuer und weniger abgenutzt als die Buks, die in der Ukraine am Tag des Abschusses aufgenommen worden waren. Der Instagram-Post enthielt die Information, dass dieses Buk Teil einer langen Kolonne von Militärfahrzeugen war, die durch die russische Stadt Stary Oskol, ungefähr neunzig Kilometer nördlich der Grenze zur Ukraine, gefahren waren.
Auf der Fährte der Luftwaffenträger
Damit hatte Iggy einen zentralen Anhaltspunkt für seine weiteren Ermittlungen gewonnen. Auf der Plattform VKontakte stieß er auf einen Clip, der einen Tag nach der Aufnahme von Stary Oskol gedreht worden war: eine lange Militärkolonne fuhr durch die kleine Stadt Alexejewka. Im Bild tauchten auch etliche Buk auf, alle tadellos. Nur einer wirkte schmuddeliger, im Vergleich zu den anderen wie ein hässliches Entlein. In dessen Drei-Ziffern-Kennzeichen fehlte die mittlere Zahl. Iggy hielt das Video an, scrollte ein paar Bilder zurück und dann ein paarmal hin und her. Hatte er schon ins Schwarze getroffen? Er verglich das Standfoto hektisch mit der Paris Match-Aufnahme und konzentrierte sich insbesondere auf die dort fehlende Markierung. Wenn dieses Exemplar in die Ukraine überführt worden war, hätte man die drei Ziffern übermalt. Mit diesem Vorwissen war das Kennzeichen nun ganz schwach zu erkennen.
Von dem damit neu gewonnenen geografischen Punkt Alexejewka aus versuchte Iggy jetzt, mithilfe eines Routenplaners die vermutliche Fahrt von Stary Oskol zu rekonstruieren. Über die Pixifly-App durchsuchte er Instagram nach möglichen Orten und Zeiten. Erneut wühlte er sich durch endloses Bildmaterial. Schließlich fand er ein Video, das den Konvoi außerhalb von Stary Oskol zeigte. Und auf diesem Material stach das hässliche Entlein mit der Markierung deutlicher hervor als auf jedem anderen Bildmaterial bisher.
Dann stieß Iggy auf ein weiteres Dashcam-Video von der Kolonne, während diese nach Alexejewka hineinfuhr. Die Bildauflösung war so gut, dass man die Kennzeichen der Militärfahrzeuge notieren konnte. Jedes trug die Endnummer –50. Diese Endnummer zeigt den Bezirk an, wo ein Fahrzeug registriert ist. Auf Wikipedia fand Iggy eine Liste mit den russischen Registrierungsnummern. 50 gehörte zum Militärbezirk Moskau. Diese Erkenntnis präsentierte er einem Forum mit Spezialisten für russisches Militär: Wie viele Einheiten innerhalb des Militärbezirks Moskau verfügten über Buk-Lenkwaffenstarter? Die Antwort lautete: Lediglich eine, die 53. Brigade, die in Kursk stationiert ist.
Schwere Anschuldigungen gegen Russland
Das waren die Fakten: Eine lange Militärkolonne der 53. Brigade war höchstwahrscheinlich von Kursk aus nach Stary Oskol gefahren, wo sie am Abend des 23. Juni ankam. Am nächsten Tag ging es weiter nach Alexejewka und damit immer näher an die ukrainische Grenze. Auf VKontakte fand Iggy dann tatsächlich einige Posts eines Unteroffiziers der 53. Brigade. Im Hintergrund waren die himmelwärts gerichteten Lenkwaffen zu sehen, insgesamt ein höchst eindrucksvoller Anblick. Das war ein gewaltiger Fund, der Eliot und seinen Kollegen Kopfzerbrechen bereitete: Eine Veröffentlichung auf Bellingcat wäre gleichbedeutend mit schweren Anschuldigungen gegen die militärische Großmacht Russland, deren gegenwärtige Führung weder vor einem Propagandakrieg noch vor der Anwendung von Gewalt zurückschreckte.
Nach etlichen Prüfungen veröffentlichte Bellingcat die Recherche und Iggy schloss seinen Beitrag mit den feierlichen Worten: »Die russische Regierung trägt die Verantwortung für diese Tragödie.« Dieser Bericht bedeutete einen Durchbruch für Bellingcat; die Klickzahlen schossen auf über hunderttausend Page-Views in den ersten vierundzwanzig Stunden.
Einen Tag später erschien der offizielle Bericht des Dutch Safety Boards zur MH17, der die Ursache für den Abschuss der Passagiermaschine klären sollte, ohne Schuldige zu benennen. Dieses Gremium von unabhängigen Experten bestätigte Erkenntnisse, die Bellingcat bereits Wochen zuvor erlangt hatte.
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