© shutterstock: metamorworks

Die Frage, wie Darm und Psyche zusammenhängen, beschäftigt schon lange viele Wissenschaftler. So erschienen zwischen 2015 und 2019 im Schnitt fünf Studien pro Tag zu der rätselhaften Symbiose zwischen dem Menschen und seinem Mikrobiom: den Billionen Mikroorganismen, die auf und in unserem Körper leben.

Die meisten dieser Bakterien, Phagen, Viren und Pilze befinden sich im Darm. Er bietet ihnen Schutz und Nahrung, sie regeln die Verdauung und produzieren lebenswichtige Vitamine und zahlreiche andere Stoffe, und es wird klar: Darm und Psyche hängen tatsächlich unmittelbar zusammen und gerade diese Verbindung könnte im 21. Jahrhundert eine neue Ära einläuten, wenn man sich klar macht, dass der Darm ein Ökosystem im Inneren ist. Das Immunsystem steht wiederum in engem Austausch mit dem äußeren Ökosystem, wie etwa dem Meer oder dem Wald, und dem inneren Ökosystem, wie dem Darm.

Die Darm-Hirn-Achse

Darmmikroben beeinflussen das Signalstoffnetzwerk unseres Immunsystems. Unter anderem wirken sich ihre biologischen Signale auf die Ausschüttung von Serotonin und Dopamin aus. Diese beiden Hormone wirken stimmungsaufhellend und fördern unsere Konzentration. Sie werden daher auch als „Glückshormone“ bezeichnet. 

Über diese „Darm-Hirn-Achse“ sind die Symbionten aus dem Verdauungstrakt in der Lage, unseren psychischen Zustand zu verändern. Es gibt eine direkte Verbindung von Darm und Psyche, das heißt dann auch, dass psychische Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen ihre Wurzeln im Darm bzw. im Bauch haben könnten.

Darm und Psyche: Bodenbakterium wirkt stress- und angstlösend

Besonders faszinierend ist der Zusammenhang zwischen Bodenbakterien und der psychischen Gesundheit. Bei diesem Forschungsthema wird einmal mehr deutlich, wie komplex der menschliche Organismus ist und wie intensiv wir mit unserer Umwelt in Kontakt stehen. Experimente haben belegt, dass die Aufnahme des Bodenbakteriums Mycobacterium vaccae, bei Säugetieren stress- und angstlösend wirkt und Verhaltensweisen fördert, die auf eine ausgeglichene Stimmungslage hindeuten. 

Der Immunologe Graham Rook zeigte 2016, dass Bakterien eine profunde Wirkung auf unsere psychische Gesundheit haben können. So ist beispielsweise nachgewiesen, dass der Kontakt mit Bodenbakterien über ihre immunregulierende Wirkung zu einem Rückgang von Entzündungen führt – und zwar nicht nur im Darm, sondern im gesamten Organismus von Menschen und Tieren. 

Chronische Entzündungen im Körper erhöhen das Risiko einer psychischen Erkrankung. Beispielsweise reagieren Säugetiere, bei denen Entzündungsprozesse nachgewiesen wurden, auf belastende Erlebnisse eher mit einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Angststörung als Menschen ohne chronische Entzündungen. Diese negative psychische Reaktion konnte experimentell durch Kontakt zu gesundheitsschützenden Bodenmikroben reduziert werden.

Umgekehrt können psychische Probleme, wenn sie langfristig auftreten, zu Entzündungsreaktionen im Körper führen. Stress löst dadurch Entzündungen aus, ohne dass es dazu die Infektion durch einen Krankheitserreger benötigt.

Mikroorganismen als Psychopharmaka?

Die Europäische Union ließ jetzt den Zusammenhang von Darm und Psyche erforschen und möchte Mikroorganismen und deren Stoffwechselprodukte künftig als Medikamente vermarkten – sozusagen als neue Generation von Psychopharmaka. Dafür ist der Begriff Psychobiotika vorgesehen. Die Natur bietet diese therapeutische Wirkung auch ohne Rezeptpflicht, sofern wir dazu ausreichend viele intakte Ökosysteme erhalten.

Sozialer Stress und der Entzug von Sozialkontakten hat Auswirkungen auf die Psyche und das Nervensystem und schwächt auch das Immunsystem – außerdem macht es Affen und Menschen anfälliger für Krankheiten.

 

© Mira Schmidt; Darmschleimhaut mit Symbionten

Darm und Psyche – starke Vernetzung

Eine an der Universität von Kentucky durchgeführte Metaanalyse, bei der 300 wissenschaftliche Arbeiten ausgewertet wurden, kam zu dem Ergebnis, dass akuter Stress, der sich über Minuten oder Stunden erstreckt, mit einer kurzfristigen Verstärkung der Immunfunktionen verbunden ist. Mittelfristige Stressbelastungen, beispielsweise Phasen vor einem Examen, schwächen die Aktivität der Immunzellen. 

Chronischer Stress schließlich, wie zum Beispiel der Verlust von sozialen Kontakten oder die Nachwirkungen traumatischer Erlebnisse, führt zu einer Beeinträchtigung des gesamten immunologischen Signalnetzwerks mit einer Störung der Zytokinproduktion. Daraus resultiert eine langfristige Schwächung der Abwehrkräfte und eine Zunahme von Entzündungen im Organismus. Eine epidemiologische Studie aus China kam im August 2021 zu dem Ergebnis, dass Angststörungen das Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, erhöhen.

Depressionen führten nicht nur zu einem höheren Infektionsrisiko, sondern auch zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, einen schweren Krankheitsverlauf zu entwickeln oder an COVID-19 zu versterben.

Mit Fortschreiten wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sich immer mehr, dass Psyche, Nervensystem, Umwelt und Immunsystem eng zusammenhängen und Einflüsse aus einem der vier Bereiche auch auf die anderen zurückwirken. Die Wissenschaft der Zukunft sollte das Immunsystem als außerordentlich stark vernetzt mit anderen Organsystemen, ökologischen, psychischen sowie sozialen Einflüssen betrachten.

Medizin der Zukunft

Das Immunsystem höher entwickelter Säugetiere ähnelt stark dem menschlichen. Die angeborenen Abwehrkräfte entwickeln sich beim Menschen ebenso wie bei anderen Säugern bereits im Mutterleib. Ausgestattet mit einem immunologischen Hintergrundschirm aus Fresszellen, Killerzellen und Erste-Hilfe-Zellen erblickt der Mensch das Licht der Welt. Auch die Fähigkeit, im Laufe seines Lebens spezifische Antikörper gegen Erreger zu entwickeln, ist ihm in die Wiege gelegt – ebenso wie ein mehr als drei Milliarden Jahre alter Stammbaum des Lebens.

Der Rückblick auf die Evolution hat schließlich zu den Zusammenhängen zwischen Darm und Psyche, Sozialleben, Umwelt, Ernährung und Abwehrkräften geführt. Das menschliche Immunsystem ist Teil der evolutionären Biodiversität der Erde, denn der Mensch ist nicht nur Kultur-, sondern auch Naturwesen.

Wie jede andere biologische Lebensform hängt seine Gesundheit auch von dem Zustand seiner Lebensräume ab. Er benötigt, wie jedes Tier und jede Pflanze, eine „artgerechte“ Umwelt, um gesund zu werden oder zu bleiben.

Darm und Psyche: Eine neue Ära im 21. Jahrhundert?

Das 21. Jahrhundert könnte eine neue Ära des wissenschaftlichen Denkens einläuten, in der Gesundheit und Immunsystem als komplexe Umwelt- und Beziehungssysteme betrachtet werden. Eine Medizin unserer Zeit sollte die vielen Faktoren, die die Abwehrkräfte und Gesunderhaltung beeinflussen, umfassend berücksichtigen. 

Daraus resultiert auch der Auftrag, dass sich der Mensch mit großem Engagement um den Erhalt und die Wiederherstellung seiner Lebensräume und der Ökologie der Erde bemühen. Denn nur auf einem gesunden Planeten leben gesunde Menschen.

Erst wenn der Mensch versteht, dass der Schwund der Biodiversität auch auf ihn selbst und auf künftige Generationen zurückfällt, ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer ökologischen Wende in seinem politischen und wirtschaftlichen Handeln.

Die Ökoimmunologie hat das Potenzial, diese Wende herbeizuführen. Denn sie macht deutlich, wie eng der menschliche Gesundheitszustand an den Zustand seines Planeten geknüpft ist.

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