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Vor einigen Wochen haben Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck ein Energieabkommen mit Kanada verkündet: der nordamerikanische Staat soll uns in großem Umfang Grünen Wasserstoff liefern, um so die hiesige Wirtschaft zuverlässig und klimaneutral mit Energie zu versorgen. Dabei ist Kanada wahrlich nicht der Vorreiter in Sachen Klimaschutz, als der es sich gern sähe. Tatsächlich könnte Deutschland aber in vielerlei Hinsicht von Kanada und dessen Erfahrungen in der Klimapolitik profitieren.
Bei ihren gemeinsamen Auftritten betonten die beiden Regierungschefs Trudeau und Scholz besonders die gemeinsamen, demokratischen Werte ihrer Länder und ihre Einigkeit über die Notwendigkeit konsequenter Klimapolitik. Doch haben beide, insbesondere Kanada, in diesem Bereich noch eine Menge aufzuholen: Im Klimaschutz-Index 2022 schnitt Deutschland mittelmäßig, Kanada katastrophal ab – schlechter weg kommen nur Iran, Saudi Arabien und Kasachstan. Svend Andersen, der Autor von „Der Weg aus der Klimakrise“, nennt Kanada als einen der „Totalverweigerer“ der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009. Er muss es wissen, denn er arbeitet seit vielen Jahren als Treibhausgasbuchhalter in Kanada.
Was ist die B.C. Climate Action Charter?
Die B.C. Climate Action Charter (Klima-Aktions-Charta) ist eine freiwillige Vereinbarung zwischen der Regierung der kanadischen Provinz British Columbia und deren Gemeinden und Kommunalverwaltungen über Maßnahmen zum Klimaschutz. Seit 2007, als die Charta aufgesetzt wurde, haben 187 von 190 Gemeinden in B.C. die Vereinbarung unterzeichnet. Damit haben sie sich unter anderem dazu verpflichtet, CO2-neutral zu sein, die Treibhausgasemissionen in der Gemeinde sowohl zu messen als auch anzugeben.
Was ist der Klimaschutz-Index?
Der Klimaschutzindex (KSI) oder auch international: Climate Change Performance Index (CCPI) wurde vom Verein Germanwatch als Instrument entwickelt, um die internationale Klimapolitik transparenter und vergleichbarer zwischen den einzelnen Ländern zu machen. Der Index nutzt standardisierte Kriterien, um die Klimaschutzpolitik von 60 Ländern und der EU jährlich zu bewerten und zu vergleichen. Diese Länder sind zusammen für über 90 % der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Aus den Ergebnissen resultiert ein Ranking.
Was ist ein Treibhausgasbuchhalter?
Ein Treibhausgasbuchhalter oder auch Umweltmanager berät Regierungen, Behörden oder Unternehmen, die daran arbeiten, ihre Umweltbilanz zu verbessern. Auf Basis wissenschaftlicher Standards unterstützt ein Treibhausgasbuchhalter dabei, die Ausgangslage zu analysieren und die passenden Maßnahmen vorzuschlagen oder umzusetzen, um das CO2-Ziel des Auftraggebers zu erreichen.
Was ist grüner Wasserstoff?
Es gibt unterschiedliche Verfahren, Wasserstoff zu gewinnen, und zur Unterscheidung werden den einzelnen Verfahren Farben zugeordnet. Neben grünem Wasserstoff gibt es auch schwarzen, grauen, blauen, türkisen, roten, gelben und weißen Wasserstoff. Allerdings ist der grüne Wasserstoff der einzige, der als umweltfreundlich und klimaneutral gilt, weil der benötigte Energiebedarf ausschließlich durch erneuerbare Quellen wie Windkraft oder Solarenergie gedeckt wird.
Ein Paukenschlag in British Columbia
Aber auch wenn Premierminister Justin Trudeau sich in der Vergangenheit nicht besonders um den Klimaschutz verdient gemacht hat, können wir von Kanada lernen. Allerdings sollten wir dafür den Blick nicht auf die nationale Politik, sondern auf die kommunalen Strukturen lenken: Die Provinz British Columbia hat bereits 2007 beispiellos radikale Regulierungen beschlossen, um das Klima zu schützen: so mussten staatliche Einrichtungen treibhausgasneutral organisiert werden, die Provinzregierung installierte eine Berichterstattungspflicht und ein Emissionshandelssystem im Hinblick auf Treibhausgase. „Die versammelten neuen Regulierungen (…) waren eine Art Paukenschlag – ein Aufwachmanöver, das endlich in die richtige Richtung führte“, fasst Umweltmanager Andersen die „B.C. Climate Action Charter“ von damals zusammen. Das bedeutet konkret: in British Columbia werden schon seit 15 Jahren Erfahrungen gesammelt, von denen andere Länder profitieren können und sollten.
Deutsche Städte könnten im Klimaschutz schon viel weiter sein
Svend Andersen berät seit gut 20 Jahren Gemeinden, Regierungen und Unternehmen zum Klimaschutz und bekam von der Regierung der Provinz British Columbia daher 2015 den Auftrag, genau dafür zu sorgen: dass nämlich das Wissen und die Erfahrung aus der kanadischen Provinz einen Transfer in andere Länder erfährt, insbesondere nach Deutschland. Doch leider musste Andersen eine ernüchternde Erfahrung machen: „In Deutschland wussten die zuständigen Behörden sehr wohl um den wichtigen Fortschritt, der an der kanadischen Pazifikküste real funktionierte. Und dessen Strategie dazu geführt hatte, dass die Provinzregierung und viele Städte inzwischen tatsächlich klimaneutral waren“, berichtet er. „Doch in Deutschland weigerte man sich einfach, die entscheidenden Schritte zu gehen, die sich in British Columbia als zielführend erwiesen hatten. Dies scheint mir ein zentraler Grund dafür zu sein, warum deutsche Städte und Gemeinden beim Thema Klimaschutz heute noch lange nicht so weit sind, wie sie sein könnten.“ Tatsächlich hat sich daran seit 2015 nicht viel geändert, Wissenstransfer hin oder her: Als die Zeitung taz im vergangenen Jahr 401 Landkreise und kreisfreie Städte befragt hat, hatte jede vierte kommunale Regierung nicht die geringste Ahnung, wie hoch ihr Ausstoß von Treibhausgasen ist.
Die Klimakrise ist Alltagsrealität – wir brauchen eine revolutionäre Umstellung
Da es inzwischen aber nicht mehr „nur“ um das globale Klima geht, sondern ganz konkret wirtschaftliche Rahmenbedingungen und die Grundversorgung der Bevölkerung mit Energie auf dem Spiel stehen, scheint endlich Bewegung in die deutsche Klimapolitik zu kommen. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ sich zumindest so vernehmen: „Wir wollen ein verlässliches Netzwerk industrieller Zusammenarbeit schaffen und dabei die Vorteile nutzen, die Kanada und Deutschland mitbringen. Die hierfür erforderliche Umstellung kommt einer neuen industriellen Revolution gleich. Die Klimakrise ist Alltagsrealität, sehen Sie sich nur die derzeitige Hitzewelle in Europa an.“
Das Ende des europäischen „Schlenderns“?
Ist damit die Zeit des „selbstverliebten Schlenderns“ der europäischen Regierungen Richtung Katastrophe, wie es Klimaschützer Andersen in seinem Buch beschreibt, endlich Geschichte? Ist der deutschen Regierung inzwischen wirklich klar, dass es beim Klimaschutz effektiv um den Schutz von Menschenleben, der Erhalt von Lebensraum geht und nicht um die Wahrung wirtschaftlicher Interessen oder die Balance zwischen politischen Großmächten? „Ich frage mich, wann der Punkt gekommen ist, da das Feuer, der Sturm und die Wassermassen die Ignoranz zur Vernunft bringen“, schreibt Svend Andersen 2021. Anderthalb Jahre später kann man den Eindruck haben, dass selbst die Elemente nicht reichen: erst ein russischer Despot bringt Europa zum Umdenken.
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