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„Sozialpunkte, digitaler Euro und digitale Gesundheitspässe entstammen dem Instrumentenkasten technokratischer Sozialingenieure.“ Darauf weist Bestseller-Autor Norbert Häring (Endspiel des Kapitalismus) hin. Wie Staaten mit diesen und weiteren Maßnahmen Gesellschaften in „soziale Mega-Maschinen“ verwandeln, schildert Häring in dieser Artikel-Serie.
- Teil 1: Sozialpunkte bedrohen die Demokratie
- Teil 2: Digitaler Euro und Sozialkredit
- Teil 3: Technokratische Führung durch die Hintertür
- Teil 4: Soziale Bindung statt Verhaltensmanipulation von oben
Im folgenden ersten Teil seines Textes beschreibt Norbert Häring die negativen Seiten von Sozialpunkten und Smart City.
Sozialpunkte, auf Englisch auch Social Scoring oder Social Credit System genannt, sind ein System, mit dem das alltägliche Handeln von Menschen mit Punkten bewertet wird. Das kann entweder nur in eine Richtung gehen, mit Pluspunkten für erwünschtes Verhalten, für die man Privilegien oder Geldwertes bekommt, oder in beide Richtungen, Punktabzügen für unerwünschtes Verhalten und möglichen Nachteilen, wenn der Punktwert zu niedrig wird.
Ein notwendiger Bestandteil eines Sozialpunktesystems ist die Überwachung des Alltagshandelns der Menschen in Bezug auf alle Aspekte, die mit Punkten oder Punktabzug belegt werden sollen.
Einstiegsformen in ein Sozialkreditsystem sind Ökotoken, wie sie in Deutschland und Europa derzeit in einigen Regionen ausprobiert werden. Hier gibt es Punkte für ökologisch erwünschtes Verhalten, die man gegen geldwerte Vorteile eintauschen kann.
Derzeit werden von vielen Regionen und Kommunen parallel kleine Sozialkreditsysteme getestet, darunter in Rom, Wien, Bologna und Bayern. Die Projekte ähneln sich. Organisiert werden sie jeweils von den Verantwortlichen für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Diese wiederum haben meist ein enges Verhältnis zu den großen IT-Konzernen. Denn bei diesen liegt das Digitalsierungs-Know-How und die Kapazität, Verwaltungsdigitalisierung in großem Maßstab umzusetzen, liegt.
Sozialpunkte für tugendhaftes Verhalten
Die Pilotprojekte laufen jeweils darauf hinaus, dass Teilnehmer sich überwachen lassen und für tugendhaftes Verhalten Sozialpunkte erhalten, die sie in Prämien eintauschen können. Je nach Programm gibt es Punkte für ordentliches Mülltrennen, Energiesparen, Zufußgehen und Fahrradfahren, das Nutzen von Online-Verwaltungsangeboten und sogar für unbares Bezahlen.
Der Staat, der tugendhaftes Verhalten belohnt, maßt sich an, zu bestimmen, was tugendhaft ist und die Menschen mit Anreizen und Strafen entsprechend zu lenken. Das steht im Widerspruch zu einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft und zu demokratischen Prinzipien.
In einer offenen, liberalen und toleranten Gesellschaft sorgt der Staat nur dafür, dass für das Zusammenleben grob schädliche Verhaltensweisen bestraft und für unbedingt nötig erachtete – wie z.B. Steuerzahlen, erzwungen werden.
Für die Bestimmung dessen, was darüber hinaus tugendhaftes und schändliches Verhalten ist, sind die Gesellschaftsmitglieder und gesellschaftliche Organisationen zuständig, die keine hoheitliche Macht haben. Sie können es auch nur mit weichen Mitteln wie Lob und Tadel, Beachtung und Missachtung, belohnen und bestrafen.
Sozialpunkte ermöglichen Verhaltensmanipulation
Die Liberalität oder die Demokratie bleiben schnell auf der Strecke, wenn eine Mehrheit die Hoheitsgewalt des Staates nutzt, um durch Sozialpunkte einer Minderheit ein Verhalten aufzudrängen, das sie für tugendhaft hält. Oder wenn die Mächtigen vorherrschende Wertvorstellungen instrumentalisieren, um das Verhalten der Bürger in Hinblick auf eigene Ziele zu kontrollieren und zu manipulieren.
Wenn zum Beispiel der Verminderung des CO2-Ausstoßes überragende Bedeutung zugewiesen wird, dann muss die Regierung in ihrem Verantwortungsbereich die Regeln so ändern, dass diesem Ziel genüge getan wird, anstatt sich Programme zur Feinjustierung des Bürgerhandelns auszudenken, die minimalen Effekt mit erheblichen Eingriffen in die Privatsphäre und die Privatautonomie verbinden.
Smart City vs. Demokratie
Die Pilotprojekte zum Sozialkredit, mit dem man Sozialpunkte vergibt, sind in „Smart-City“-Programme eingebunden. Diese Idee baut darauf, durch Kameras, Mikrofone und Sensoren ein Maximum an Daten über eine Stadt, deren Bewohner und ihr Interagieren zu sammeln und auszuwerten. Auf dieser Basis soll das Zusammenleben dann mittels künstlicher Intelligenz effizient gesteuert werden.
In einer Broschüre des Bundesumweltministeriums mit dem Titel „Smart City Charta“ aus dem Jahr 2017 findet man unter anderem folgende Aussagen:
- Künstliche Intelligenz ersetzt Wahl: Wir müssen uns nie entscheiden, einen bestimmten Bus oder Zug zu nehmen, sondern bekommen den schnellsten Weg von A nach B vorgegeben.
- Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliches Rückkopplungssystem ersetzen. Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen,
- Vielleicht wird Privateigentum ein Luxus. Daten könnten Geld als Währung ergänzen oder ersetzen.
- Ein Markt übermittelt nur, dass eine Person dies oder das gekauft hat; wir wissen aber nicht warum. Künftig können Sensoren uns bessere Daten als Märkte liefern.
Das war kein einmaliger, inzwischen verjährter Ausrutscher. Das Smart-City-Programm wurde unter Innen-, Bau- und Heimatminister Horst Seehofer ebenso weitergeführt wie unter der Ministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Klara Geywitz.
Selektion nach Sozialpunkten und „Wichtigkeit“
In den Sonntagsreden und Broschüren zu Smart City geht es um die Verbesserung der Lebensqualität und den Schutz der Umwelt. Das Letzteres durchaus auch bedeuten kann, dass selektiert wird, wer wichtig genug ist, um mit dem Auto oder überhaupt in die Innenstadt zu dürfen, wird selten erwähnt, ebenso selten, welches totalitäre Potential in der Überwachungsinfrastruktur steckt, das integraler Bestandteil jeder Smart City und jedes Sozialkreditsystems ist.
Manchmal scheint es aber durch, wie in einer als Studie bezeichneten Werbebroschüre von McKinsey mit dem Titel: „Smart cities: Digital solutions for a more livable future“. Darin werden die Vorzüge der Überwachungstechniken von Smart Cities bei der Kriminalitätsbekämpfung gepriesen, mit „datengetriebener Polizeiarbeit“, unter anderem durch „predictive policing“. Dabei verhindert die Polizei Verbrechen schon im Vorfeld, weil Algorithmen sie auf potenzielle Täter und Tatorte hinweisen.
Lesen Sie dazu auch die Teile 2 (Digitaler Euro und Sozialkredit), 3 (Technokratische Führung durch die Hintertür) und 4 (Soziale Bindung statt Verhaltensmanipulation von oben) der Artikelserie Die soziale Mega-Maschine.
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